Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
Vom Netzwerk:
hinein.
    » Was sieht sie? « , fragte jemand, doch Sibyl nahm es kaum wahr.
    » Miss Allston? « , drängte sie ein anderer. » Können Sie es uns sagen? Was Sie sehen? «
    Die Stimme erreichte Sibyl erst nach gefühlten mehreren Minuten, und obwohl sie verstand, was gefragt wurde, schien es irgendwie nichts mit ihr zu tun zu haben und völlig ohne Bedeutung zu sein. Sie gab keine Antwort.
    » Miss Allston? « , fragte die Stimme erneut. Sie kam von noch weiter weg.
    Mittlerweile hatte sich der ganze Rauch verzogen, war in das brennende Licht im Innern der Kugel hineingesogen worden. Die Nadelspitze glühte immer intensiver, wurde größer und größer und zerplatzte schließlich zu einer Million winziger Fragmente – einem von Sternen übersäten, eisigen Nachthimmel. Sibyls Lippen öffneten sich, und sie seufzte vor Zufriedenheit. So war das immer. Und als Nächstes würde sie das Wasser sehen können.
    Da war es. Langsam verlagerte sich ihr Blickwinkel in die Kugel unter ihren Fingerspitzen, rotierte vom Himmel über ihr bis hinab zur Wasseroberfläche, schwebte wie im Flug über diese sich kräuselnden Wassermassen dahin. Jetzt sah das Wasser so nah aus, als könnte sie es berühren, als bräuchte sie nur die Oberfläche der Kugel zu durchstoßen, um die Finger in die sternenglitzernden Fluten zu tauchen. Schneller und schneller wurde sie, schoss hin und her wie eine Seeschwalbe, die eine Schar Fische verfolgt, dann rückte das Bild schlagartig näher, wie durch ein Fernrohr herangezogen, und vor ihr lag ein riesiger Ozeandampfer, der sich durch eine gewaltige Woge von Gischt pflügte, welche vom Bug des Schiffes abperlte. Sibyl stockte der Atem vor Aufregung. Mit jedem Versuch hatte sie mehr sehen können, immer ein kleines bisschen mehr.
    » Ich bin ganz und gar nicht überzeugt « , wisperte jemand, und zur gleichen Zeit äußerte eine andere Person den Wunsch, sie würde kommentieren, was sie sah, erklären, was sie tat, oder das schildern, was genau vorging. Doch auch dieses Flüstern hatte nichts mit ihr zu tun, und so achtete sie gar nicht darauf.
    Stattdessen schaute sie einfach nur zu, die Finger nach wie vor leicht auf die Kristallkugel gelegt, während der Blick auf dem Bug des Schiffes verweilte, ihn bei seinem Weg durch die Nacht verfolgte. Dann auf einmal, wie mit Absicht, zog sich der Blickpunkt innerhalb der Kugel von der Gischtlinie weg, bewegte sich an der Längsseite des Dampfers entlang, glitt über eine auf Hochglanz polierte Reling hinweg und bewegte sich in Richtung Bug.
    Zum ersten Mal sah Sibyl Gesichter und stieß einen Schrei der Überraschung und der Freude aus. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb, bis der Rauch wieder aufwirbelte und ihr die Sicht versperrte; gewöhnlich hatte das Bild nur höchstens ein paar Minuten Bestand, sank dann wieder unter die schwarze Wolke hinab und verschwand. Sie kniff die Augen zusammen, sah genauer hin.
    Rasch zog das Schiff an ihr vorbei, gewährte hier und da den Blick auf ein lächelndes Gesicht. Die Menschen waren in Abendkleidung, doch sie waren ihr alle fremd. Die Frauen trugen spinnwebfeine Roben, die zum Schutz gegen die eisige Luft des Nordatlantiks mit Pelz besetzt waren, die Männer weiße Krawatten und Frack. Ein Pärchen kam in Sicht, der junge Mann hatte das Haar mit Pomade zurückgestrichen und flüsterte einem Mädchen mit einer Blume über dem Ohr etwas offenbar Witziges zu. Sibyl schaute genauer hin, weil sie dachte, das Mädchen mit den funkelnden Augen könne Eulah sein. Doch nein, dieses Mädchen hatte schwarzes Haar, das in lauter kleine Löckchen gelegt war. Wer auch immer es war, sie sah glücklich aus. Die junge Unbekannte legte den Kopf in den Nacken und trank einen Schluck Champagner, dann drehte der Blick innerhalb der Kugel weg und fuhr suchend durch die Menge.
    Durch die Dunstschicht hindurch, die ihren Körper einhüllte, spürte Sibyl, wie ihr Herz schneller schlug, sie hörte das Pulsieren des Blutes in ihren Venen. Im Inneren der Kugel bewegte sich ihr Gesichtsfeld jetzt durch ein Grüppchen tanzender, wohlgenährter Männer hindurch, deren Wangen die Farbe von Roastbeef hatten. Sie schwoften mit Matronen, die altmodische Ketten aus Jett trugen. Erkennen konnte sie niemanden. Wo mochten bloß ihre Mutter und Eulah sein? Sie erinnerte sich an das Telegramm ihrer Mutter, in dem sie geschrieben hatte, dass sie doch nicht am Tisch des Kapitäns gelandet waren, doch wo man sie dann wirklich platziert hatte, war

Weitere Kostenlose Bücher