Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
Vom Netzwerk:
ihr entfallen. Dann fiel es ihr doch wieder ein – am Tisch der Wideners. Doch Sibyl kannte weder Harry noch seine Eltern. Sibyl runzelte die Stirn, blickte in die Kugel, suchte nach einem Gesicht, das nach einem Bücherwurm aussehen mochte. Junge Männer mit Brille, die an anderen Menschen vorübergingen, Kerzenlicht, das auf Glas schimmerte …
    Plötzlich zog Sibyl hörbar den Atem ein, und sie biss sich erschrocken auf die Unterlippe. Das Bild in der Kugel wackelte, Menschen stolperten, stürzten, fielen in Tische, Männer packten Frauen am Ellbogen, Münder wurden aufgerissen, Schreie … Doch sie hatte noch gar nicht …
    » Mein Gott « , flüsterte jemand, und die Stimme klang irgendwie gedämpft, wie meilenweit entfernt. » Geht es ihr gut? Miss Allston? «
    Doch nein, sie würde sich nicht ablenken lassen, sie würde es nicht zulassen, dass man sie wegzog, nicht jetzt, da sie kurz davor stand, sie zu finden. Erneut ging ein Ruck durch das Schiff, und die Menge im Speisesaal des Schiffes wandelte sich. Nun war es nicht mehr eine gesetzte und vornehme Ansammlung von einzelnen Personen, die kultiviert und weltmännisch ihre Reise zwischen Europa und New York genossen. An ihre Stelle trat eine hektische Masse in Panik, schwarz-weiß mit bunten Flecken, und all diese Menschen bewegten sich in eine Richtung. Sie liefen vor etwas davon.
    Sibyl konnte nicht erkennen, was vor sich ging. Ihr Atem ging schneller, und sie beugte sich näher an die Kugel, drückte die Nase fast an die Glasoberfläche, suchte mit den Augen verzweifelt die wogende Menschenmenge nach einem bekannten Gesicht ab. Bestimmt hatte Eulah doch getanzt. Ob sie wohl glücklich gewesen war?
    Der Blickwinkel innerhalb der Kugel veränderte sich erneut, aber das verlief nicht mehr ganz nach Sibyls Willen. Einer ihrer Finger zuckte vor Anspannung, als sie sah, wie Wellen der Panik durch die Menge im Speisesaal gingen, hier stand ein Mann in Uniform, der versuchte, Anweisungen zu geben, von der weiterstürmenden Menge jedoch ignoriert wurde. Stühle wurden umgeworfen, ein Mann stieß einen Tisch beiseite, Glas splitterte und flog in alle Richtungen. Sibyl hielt den Atem an, während in der Kugel der Speisesaal begann, sich zur Seite zu neigen.
    Dann trieb der Blickwinkel in der Kugel ganz langsam auf eine Person zu, die reglos mitten in der Menge stand. Es war eine Person, die Sibyl kannte.
    Ihr Mund stand offen, und sie schnappte erschrocken und fassungslos nach Luft.
    Da war es wieder in ihrem Ohr, dieses ständige Flüstern, das sich ganz langsam in ihr Bewusstsein schlängelte. » Was ist denn, Sibyl? « , fragte Benton leise. » Was glauben Sie denn zu sehen? «
    Ein gellender Schrei.
    Blinzelnd erwachte Sibyl aus ihrer Trance. Erschrocken und verwirrt blickte sie sich um – es war ihr nicht klar, wo sie sich befand oder was geschehen war. Woher war der Schrei gekommen?
    » Oh! « Da war er wieder, der Schrei, und Sibyl wandte sich Mrs Dee zu, die bei dem schummrigen Licht nur als Umriss am Kopfende des Tisches zu erkennen war. Die Augen des Mediums richteten sich, starr vor Entsetzen, auf die Kristallkugel, ihr Mund stand offen, und Mrs Dees Kinn bebte vor offenkundiger Erregung. » Oh, wie schrecklich! Meine arme Helen! Wie sie leidet! Und das Wasser ist so kalt! «
    Sibyl wandte den Blick wieder der Kristallkugel zu, die vom Druck ihrer Fingerspitzen an der Oberfläche ganz warm geworden war. Das Bild war verschwunden: die Menge, das Schiff, das Wasser, das Sternenlicht, selbst die schwarzen Rauchschwaden, alles war weg. Die Kugel lag wieder in ihrer samtenen Vertiefung, nur noch ein bewegungsloses Stück Glas. Sibyl schaute Mrs Dee von der Seite an, ohne den Kopf zu drehen.
    » Seht nur, wie es steigt! « , schrie das Medium, und ihr Kopf rollte vor der hohen Lehne des gotischen Stuhles hin und her. Ihre Augäpfel drehten sich weg, sodass nur noch das Weiße zu sehen war, und nun drang ein tiefes Stöhnen aus ihrem Mund.
    Während dieses Stöhnen immer tiefer und unwirklicher wurde, wie ein Laut aus der Unterwelt, beugten sich sowohl Benton als auch Professor Friend, den Sibyl bei dem schwachen Lichtschein kaum erkennen konnte, nach vorne, beide verblüfft und fasziniert zugleich. Sibyl ließ die Hände auf dem Tisch liegen, zwischen ihnen nach wie vor die Schachtel mit der Kristallkugel.
    In diesem Moment bewegte sich, unter ihren Händen, der Tisch.
    » Was zum Teufel? « , sagte Benton laut.
    Wieder bewegte sich der Tisch, rutschte

Weitere Kostenlose Bücher