Die Frauen von der Beacon Street
aus dem Hof führten. Lan schaute über seine Schulter zurück auf den leblosen Körper seines Freundes am Boden, dessen Augen offen standen und ins Leere blickten. Johnny, mit seiner Schwäche für Frauen und fürs Opium, der Junge mit der schönen Schwester und dem strengen Vater, der nie erfahren würde, was mit seinem Sohn geschehen war. Lannie wurde bewusst, dass er nicht einmal Johnnys richtigen Namen gekannt hatte.
Er ließ den Kopf hängen, und ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle, so entsetzlich schien ihm die Sünde zu sein, die seine Seele befleckte, eine Sünde, die dadurch noch viel schlimmer und schrecklicher wurde, dass er sie hatte kommen sehen.
» Beeilt euch « , zischte Richard Derby, und Lannie, der noch immer weinte, verfiel in Laufschritt.
Auf einmal war hinter ihm ein lautes Krächzen, ein Flattern zu hören, und etwas Scharfes, wie Krallen, bohrte sich in Lannies Schulter. Er sprang mit einem überraschten Schrei beiseite, doch die Krallen blieben, wo sie waren.
» Schätze, der hat beschlossen mitzukommen « , meinte Richard trocken und zeigte auf den blau schimmernden Vogel auf Lans Schulter. » Die sind schrecklich schlau, weißt du. Papageien. Wahrscheinlich war er schon auf einem Schiff, bevor er hierherkam. Aus Südamerika. Und uralt werden die auch. Ist wahrscheinlich älter als du. «
Die Seeleute tauchten in das Straßengewirr der internationalen Siedlung ein und beeilten sich, noch rechtzeitig aufs Schiff zu kommen. In ihrer Mitte schluckte Lan seine Tränen hinunter, bis sie schließlich ganz versiegt waren. Sein Kiefer schmerzte, ihm dröhnte der Kopf, und eine Kruste getrockneten Blutes verklebte sein Haar, doch er war von Männern umgeben, denen er vertrauen konnte, Männern, die für ihn dem Tod ins Auge blicken würden. Ein entschlossener Zug legte sich um seinen Mund, und er beschloss, die Strafen, die die Vorsehung für ihn bereithielt, tapfer hinzunehmen. Während er sich langsam an den Gedanken gewöhnte, dass der Makel, ein Mörder zu sein, für immer seine Seele beflecken würde, spürte er, dass ihn jemand beobachtete.
Aus dem Augenwinkel heraus sah Lan den Papagei, der, zu einem undefinierbaren Knäuel auf seiner Schulter zusammengekauert, mit ihm durch die Hintergassen von Shanghai trottete. Das Tier erwiderte seinen Blick mit einem seiner schwarzen Knopfaugen, ein leidenschaftsloser Beobachter all dessen, was Lan getan hatte.
Und all dessen, was noch kommen würde.
ACHTUNDZWANZIG
Back Bay, Boston, Massachusetts
17. Oktober 1917
S ibyl stellte ihren Koffer mit einem leisen Plumpsen auf der Treppe ab und blickte zu der freundlichen Fassade des Stadthauses an der Beacon Street empor. Wie immer erinnerte es sie an ein schlafendes Tier, das mit einem Pelz aus Efeu bedeckt ist.
Sibyl seufzte zufrieden.
Daheim. Sie war bereit für daheim.
Sie stand auf der obersten Stufe der Treppe und sah auf die Beacon Street, die so wirkte wie immer, atmete die würzige Duftmischung aus kühler Erde und Holzrauch aus den Kaminen ein. Hinter ihr ging jetzt die Tür auf, und sie drehte sich mit einem Lächeln um.
» Aha « , begrüßte Mrs Doherty sie mit einem Hauch Ungeduld. » Dann kommen Sie doch herein, bevor Sie sich den Tod holen. Und Vorsicht mit dem Teppich. «
» Danke, Mrs Doherty « , sagte Sibyl.
Als sie eintrat, überraschte sie die stämmige Irin mit einer raschen Umarmung. Mrs Doherty versteifte sich zunächst, entspannte sich dann aber genug, um die herzliche Geste mit einem etwas linkischen Klopfen auf Sibyls Rücken zu erwidern. Sibyl lachte und nahm ihren Hut ab.
Auch die Diele wirkte wie immer, selbst die vergessenen Hüte, die den Garderobenständer schmückten, hingen nach wie vor an Ort und Stelle. Sibyl erhaschte im Vorübergehen einen Blick auf ihr Spiegelbild und lächelte ihm zu. Ihre Wangen waren ein wenig voller geworden und hatten eine gesunde rosige Farbe, und die schwarzen Augen leuchteten mehr denn je. Sie hatte recht daran getan, als sie die Entscheidung traf wegzugehen. Und ebenso richtig war es jetzt, nach Hause zurückzukehren.
» Wo ist er? « , fragte sie die Haushälterin, die sich bereits über Sibyls Koffer beugte.
Die Frau erhob sich mit einem Ächzen und antwortete: » Dreimal dürfen Sie raten. Da drinnen. « Sie wies mit dem Kinn in Richtung Wohnzimmer, wo Sibyls Vater bestimmt genau dort über seiner Zeitung brütete, wo sie ihn damals zurückgelassen hatte.
» Hat mich überrascht, dass er Sie nicht am Bahnhof
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