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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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zweimal, kullerte ein Stück und blieb vor Toms Stiefel liegen.
    Es war ein Zahn.
    » Heiliger Strohsack, Tom! « , lallte er, während sich das Blut in seinem Mund sammelte.
    » Geschieht dir recht, reiches Muttersöhnchen! « , fauchte Tom, der immer noch von einigen Schiffskameraden festgehalten wurde. Er versuchte sich loszumachen, was ihm jedoch nicht gelang. Richard Derby löste sich von der Gruppe und kniete auf der anderen Seite neben Lannie.
    » Lannie « , sagte er mit leiser Stimme. » Hör mal, ich weiß, was du wolltest. Und ich bewundere dich dafür. Du hast Mumm in den Knochen. Aber vielleicht … Sieh mal, warum drehst du nicht ’ne Runde draußen? Und triffst dich später wieder mit uns? Vielleicht morgen. « Dick legte Lannie eine Hand auf die Schulter, drückte sie freundschaftlich. » Lass einfach ein bisschen Gras drüberwachsen. «
    Lannie schaute Dick ins Gesicht, blickte dann über die Schultern des Mannes aus Salem hinweg zu Tom, der von den anderen Seeleuten umringt war. Ihr Gemurmel war nicht zu verstehen.
    » Komm schon « , sagte Dick und zog ihn hoch. » Ist schon alles in Ordnung. Du wirst sehen. Das passiert immer wieder, erster Abend im Hafen und so. Den Männern juckt’s in den Fingern. Hat nichts zu bedeuten. «
    Lannies Augen wanderten zu Dicks Gesicht, weil er wissen wollte, ob sein Freund die Wahrheit sprach. Sicher war er sich nicht. Aber wenn Dick ihm sagte, er solle gehen, dann machte er sich wohl tatsächlich am besten vom Acker.
    » Du hast gehört, was dein Kumpel gesagt hat « , meinte der Student und legte Lannie die Hand auf die Schulter. » Komm, verlassen wir diesen Sündenpfuhl. «
    Er nahm Lannie am Ellbogen, warf eine Handvoll Yuan auf den Tresen und führte ihn in Richtung Tür. Geschäftig näherte sich die Madame und drückte Lannie eine kalte Kompresse in die Hand.
    Er wollte ihr lallend danken, doch der Student kam ihm zuvor und scheuchte die Frau weg.
    Dann ging die Tür auf, und sie traten in die feuchtwarme Nacht hinaus.

SECHS
    Harvard Square, Cambridge, Massachusetts
    16. April 1915
    D ie Kraftdroschke suchte sich einen Weg durch die Studenten, die sich am Harvard Square drängten, wich zwei klingelnden Straßenbahnen, dem Karren eines Handlangers, der von zwei abgemagerten Pferden gezogen wurde, und einem halben Dutzend Jungen aus, die mit wehenden Rockschößen vorbeiradelten. Sibyl klammerte sich mit beiden Händen an den harten Ledersitz, voller Angst, gleich könne noch eine weitere Gefahr aus dem Nebel auftauchen und sie tatsächlich unter die Räder geraten. Der Droschkenfahrer, ein bleicher Mann mit struppigem Backenbart und Hut, schien sich wenig an dem Verkehr zu stören. Er lenkte hierhin und dorthin, drückte auf die Bremse, beugte sich nach vorn und bediente die Hupe. Sibyl konnte sich weniger denn je vorstellen, selbst einmal ein Automobil zu fahren.
    » Zu wissen, was in jemandem vorgeht « , hatte Benton gesagt, bevor sie sein Büro verließ. » Manche fragen sich, ob das überhaupt möglich ist. «
    Sibyl hatte zu ihm hochgeblickt, verärgert und voller Ungeduld. » Wozu soll es dann gut sein? « , fragte sie, entzog sich seinem Griff und presste die Lippen aufeinander, in einer Mischung aus Verdruss und Scham darüber, wie nutzlos sie selbst war, wenn es um Menschen ging, die sie wirklich brauchten. Im Geiste ging sie all die Bälle durch, die sie besucht, all die neuen Kleider, die sie getragen, abgeändert und weggeworfen hatte, und all das nur, damit diejenigen, die mit weniger Glück gesegnet waren, es besser hatten. Zumindest hieß es auf den Einladungen zu den Wohltätigkeitsbällen immer so.
    Seltsamerweise hatte sich Benton nicht angegriffen gefühlt. » Professor James – der bis zu seinem Tode mein Mentor war – sagte, Fakten werden nur insofern wahr, als sie uns dazu dienen zu begreifen, welchen Platz wir auf der Welt einnehmen. Doch ich stimme Dr. Freud zu – der menschliche Geist ist wie eine Maschine, die durch Umstände während unserer Kindheit zusammengebaut wird und durch Achtsamkeit und Pflege noch optimiert werden kann. Wir können uns ändern, Sibyl. Daran glaube ich. «
    Sie hatte Benton angeschaut, dessen blassgraue Augen weicher geworden waren, seit er ihr die vernichtende Mitteilung bezüglich Harlan gemacht hatte. Sibyl hatte Bentons Hand genommen, sie gedrückt, hatte ihm ein dankbares und doch auch trauriges Lächeln geschenkt und sich zum Gehen gewandt.
    Jetzt blickte sie aus dem Fenster in die graue Welt

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