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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Geländer hinweg und unterzog ungerührt die Gruppe von Amerikanern einer Prüfung, die sich unter der offenen Herausforderung ihres Blickes noch mehr zusammendrängten. Einige der Männer murmelten vor sich hin, machten Witze, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Die Frau war winzig, selbst in ihren Schuhen mit den hohen Absätzen höchstens eins fünfzig, und so dünn, dass es aussah, als würde sie überhaupt kein Gewicht auf die Waage bringen. Lannie staunte, wie ein so zierliches Wesen seine Gruppe von Seebären mit einem Blick in ein Häuflein bibbernde Schuljungen verwandeln konnte, als könnte sie sie allein mit ihrer Willenskraft in ihre Schranken verweisen.
    Im Schlepptau der Zwergin kam nun eine dritte Frau die Treppe herab. Sie wirkte viel koketter und war mit ihrer bunten Schminke und den wie lackierten Löckchen von unbestimmbarem Alter. Ihr Morgenrock war auffallend gemustert, ihr gackerndes Lachen schrill und misstönend. Sie wackelte beim Gehen auf übertriebene Weise mit den Hüften, die Lannie geschmacklos fand, doch es war auch deutlich zu spüren, dass die etwas primitive Art der Frau auf einige andere Mitglieder ihrer Truppe einen ganz besonderen Charme ausübte. Einige johlten und klatschten mit jedem Schritt, den sie die Treppe herunterkam, lauten Beifall.
    Im Schlepptau der Kokotte kam nun eine eher statuenhafte Frau. Ihr hochgestecktes Haar zeigte einen seltsam blasses Kastanienbraun, bei dem man möglicherweise mit allerlei chemischen Mitteln nachgeholfen hatte, wenngleich ihre Züge, ebenso wie die der anderen Frauen, sie seltsam heimatlos wirken ließen, als könnte sie von überall und nirgendwo stammen. Sie hielt den Kopf und die Nase hochmütig nach oben gereckt. An ihrem sehnigen Hals hing – war das möglich? – eine Perlenkette, die sich über ihre Schlüsselbeine legte und irgendwo in den Falten ihres schwarzen Seidenmorgenmantels verschwand. Lannie riss verzückt die Augen auf.
    Das junge Mädchen, das als Erstes die Treppe heruntergekommen war, ohne auch nur ein einziges Mal den Blick zu heben, blieb an einer Stelle gegenüber der Bar an der Wand stehen und ging nun, das eine bestrumpfte Bein nach vorn ausgestreckt, mit gefalteten Händen in Position. Eine nach der anderen stellten sich die Frauen neben ihr auf. Einige von ihnen blickten gleichmütig zu den Seeleuten, andere starrten auf einen Punkt irgendwo in mittlerer Entfernung oder hielten den Blick zu Boden gesenkt.
    Einen surrealen Moment lang fühlte sich Lannie an die unterhaltsamen tableux vivants erinnert, welche die jungen Frauen seiner Bekanntschaft manchmal zum Spaß bildeten: die Jagdgöttin Diana, umgeben von ihren Waldnymphen, dargestellt in regloser Pracht von züchtigen jungen Damen der Gesellschaft, die sich irgendwelche Stoffe um den Körper drapiert und ein paar grüne Zweige ins Haar geflochten hatten. Natürlich waren diese Tableaus » künstlerisch « gedacht, als Gemälde, die durch echte Menschen ins Leben gerufen werden. Doch diese Reihe von Frauen hier, die so nahe standen, dass Lannie ihre widerstreitenden Parfüms in die Nase stiegen, war kein abstrakter Lobgesang auf die weibliche Schönheit. Mit diesen Frauen konnte man reden. Man konnte sie berühren. Ein Gedanke, der ihn zugleich erregte und abstieß.
    Die westlich gekleidete Madame schritt vor ihrer ausgestellten Ware auf und ab, rückte Morgenröcke zurecht, korrigierte hier eine Haltung mit einem scharfen Klaps auf eine Schulter, dort auf eine Wange. Erst als auch die letzte Korrektur zu ihrer Zufriedenheit ausgeführt war und die Frauen sich von ihrer allerbesten Seite zeigen konnten, trat Ruhe ein.
    Die Madame begann am Ende der Reihe und legte besitzergreifend eine Klaue auf die Schulter der letzten Hure, einer dicklichen Person mit ausladendem Busen, der hinter dem festgezurrten Oberteil ihres rosa Morgenmantels wohl verborgen war. Als die Madame ihre Hand mit einer schnellen Bewegung wegzog, öffnete sich der Morgenrock und enthüllte eine weiche, wogende Fleischmasse, von der Lannie den Blick abwenden musste. Die Madame hielt eine lange Lobeshymne auf Chinesisch – welcher Dialekt es war, hätte Lannie nicht sagen können –, und Richard Derby meinte lachend: » Nun, Jungs, muss ich euch das jetzt übersetzen, oder stechen ihre Vorzüge euch auch so ins Auge? «
    Die Gruppe grölte zustimmend, und einer der Seemänner jauchzte, trat nach vorne, packte die kurvige Kokotte um die Taille, hob sie hoch und warf sie auf und ab wie ein

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