Die Frauen von der Beacon Street
hinaus und ging in Gedanken all die verschiedenen Möglichkeiten durch, die sie hatte, um das Problem mit Harlan zu lösen. Wenn man ihn aus irgendeinem Grund der Schule verwiesen hatte, dann gab es ja vielleicht die Möglichkeit, ihn wieder zuzulassen. Und wenn er einigen seiner Freunde Geld schuldete, dann hatte doch sicher ihr Vater eine Idee, was man tun könnte. Harlan kannte all diese Burschen doch schon seit Kindertagen. Er würde es schon richten können. Sollte es wirklich nur eine finanzielle Frage sein, dann konnte sich ihr Bruder doch etwas von ihrem Vater leihen, mit seinem Anteil am Familienvermögen als Sicherheit. Oder er konnte einen Job in Lan Allstons Schifffahrtsgesellschaft annehmen.
Er konnte einen Ausweg finden.
Er konnte.
Wenn er nach Hause kam.
Der verwöhnte Balg.
Der Gedanke brach mit einer solchen Heftigkeit über Sibyl herein, dass sie auf einmal ganz von Wut erfüllt war. Sie schob sich die unbehandschuhte Faust in den Mund, grub die Zähne in die Kuhle zwischen den Knöcheln, um zu verhindern, dass sich ein Wutschrei ihrer Kehle entrang. Was für eine Ausrede mochte Harley wohl dafür haben, dass er so waghalsig gespielt hatte? Und sie so sehr in Sorge stürzte? Und damit so viele Schwierigkeiten auf sich zog? Und wo steckte er überhaupt?
Ohne Vorwarnung fuhr die motorisierte Droschke über ein Schlagloch, und Sibyl wurde auf dem Rücksitz hin und her geschleudert. Bei dem Ruck biss sie sich selbst in die Hand, und der kupferartige Geschmack von Blut lag ihr auf der Zunge. Sie rappelte sich wieder hoch und suchte auf dem glatten Leder des Sitzes nach Halt.
» Tut mir leid, Miss « , sagte der Fahrer und drosselte das Tempo.
Sibyl ließ sich gegen die Rückenlehne sinken. Sie wusste, dass es eher die Sorge um ihren Bruder war, die sie so mitnahm, als körperliche Anstrengung, doch auf einmal hatte sie das Gefühl, überhaupt keine Energie mehr zu haben. Das Blut wich aus ihrem Gesicht, und der ölige schwarze Schleier, den sie zuvor gesehen hatte, legte sich wieder über ihr Gesichtsfeld. Ihr Mund wurde trocken, und Sibyl presste eine Hand an ihre Wange, um nicht das Bewusstsein zu verlieren.
» Entschuldigen Sie bitte « , gelang es ihr zu sagen. Ihre Stimme klang belegt, so sehr strengte es sie an.
» Ja, Miss? « , fragte der Fahrer gedehnt und hielt ein Ohr nach hinten, um ihre Anweisungen entgegenzunehmen.
» Ich fürchte, ich habe Ihnen eine falsche Adresse gegeben « , sagte Sibyl, jedes einzelne Wort betonend.
Der Mann nickte, als sie ihm eine neue Adresse gab, dann griff sie nach oben, zog die Nadeln aus ihrem Hut und ließ den Kopf gegen das Rückenpolster sinken. Langsam schlossen sich ihre Augen vor der Dunkelheit.
Das Automobil kam vor dem Haus am Beacon Hill zum Stehen, und der Fahrer sprang bei laufendem Motor heraus, um die hintere Tür zu öffnen. Bleich und dankbar blickte Sibyl zu ihm hoch, und er half ihr mit überraschender Behutsamkeit aus dem Wagen. Sie stand auf unsicheren Beinen vor ihm und musste sich mit den Fingerspitzen am Wagendach festhalten, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
» Alles in Ordnung? « , fragte er, das Gesicht in Sorgenfalten gelegt.
Sibyl war entsetzt, dass dieser Fremde bemerkt hatte, was mit ihr vorging, und offenbar aufrichtig besorgt war. Was war sie denn anderes für ihn als ein namenloses Gesicht mitsamt einer Geldbörse, mit der seine Fahrt bezahlt wurde?
» Wie freundlich von Ihnen « , sagte Sibyl, ein Satz, der ihr oft über die Lippen kam, ohne dass sie ihm allzu viel Bedeutung beigemessen hätte. Heute jedoch war das anders. » Es geht mir gut « , sagte sie dankbar.
Der Mann nahm sein Fahrgeld ohne ein weiteres Wort entgegen, tippte sich aber an den Hut, bevor er wieder einstieg und davonfuhr.
Sibyl stieg die Treppe des Stadthauses empor, in dem sie … war das wirklich nur einen Tag her, dass sie hier gewesen war? Unmöglich, aber wahr. Die Tür stand bereits offen, wie immer wartete der Butler reglos im Eingang, als wäre er aus Holz geschnitzt und so geschickt angemalt, dass er täuschend echt aussah.
Sibyls Vater hielt es für anmaßend, einen Butler anzustellen. Stinkt nach reichen New Yorkern, hatte er einmal ihr gegenüber bemerkt. Da war sich Sibyl nicht so sicher; sie fand, es verlieh einem Haus einen gewissen europäischen Charme. Gewiss hatte auch Helen das so gesehen. Mehr als einmal hatte Sibyls Mutter auf Lannie eingeredet, sie sollten endlich einen Mann anstellen, der den Gästen die
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