Die Frauen von der Beacon Street

großes Päckchen zu tragen « , pflichtete ihr Mrs Dee bei.
    » Ich hatte keine Ahnung, dass es einmal so schlimm mit ihm kommen würde « , fuhr sie fort. » Aber er erzählt mir nie etwas. Früher schon, wissen Sie. Als wir noch klein waren. Er hat sich ganz von mir zurückgezogen. Zuerst die Probleme mit dem Studium, dann die Spielschulden. Benton scheint immerhin zu verstehen, wo das Problem liegt. «
    » Und, ist das so? « , hakte Mrs Dee nach, wobei sie den Eindruck erweckte, sie wisse die Antwort bereits, wolle jedoch abwarten, ob Sibyl selbst darauf kam.
    » Vielleicht. Vielleicht versteht er es, ja. Aber ich kann es nicht glauben. Na ja, vielleicht kann ich es glauben, wenn ich ehrlich bin. « Sibyl massierte sich die Stirn.
    Mrs Dee wartete.
    » Es ging bei ihm ja schon eine Weile in diese Richtung. Sogar Papa sieht das ein. Aber ich hätte gedacht … das heißt, Benton findet, dass damit nicht alles zu erklären ist. Oder doch? «
    Mrs Dee fixierte sie mit einem wissenden Lächeln.
    » Vielleicht « , sagte das Medium nach einer Weile, » können wir das herausfinden. « Sie nickte dem Butler gebieterisch zu, der an einem gewissen Punkt unbemerkt in der Tür erschienen war und jetzt auf Anweisungen wartete. Er ging auf leisen Sohlen im Salon umher und löschte die Lichter, bis nur noch eine altmodische Öllampe brannte, die neben Mrs Dees aufgestütztem Ellbogen stand. Sibyl beobachtete diese Vorbereitungen mit einer Mischung aus Unbehagen und Erregung.
    » Wissen Sie, was das ist? « , fragte Mrs Dee und hielt die Kristallkugel hoch. Sie hatte die bleiche Farbe entrahmter Milch und lag noch immer in ihrer Samthülle.
    Sibyl war sich nicht sicher. Einen Moment lang sah sie nichts anderes als das, was es war – eine eher polierte Kugel, etwa von der Größe eines Hühnereis, wenn Hühnereier denn rund und nicht oval wären.
    » Ich fürchte, nein « , antwortete sie und fügte, weil sie sich dumm vorkam, hinzu: » Sie ist sehr hübsch. « Noch immer war in ihr der starke Wunsch, Mrs Dee würde ihr die Kugel reichen. Ihre Finger sehnten sich danach, sie zu berühren.
    » Das, meine Liebe, ist ein ganz besonderes Werkzeug, mit dem ich arbeite. Wir benutzen es, um Bilder von Dingen zu sehen, die außerhalb unserer normalen Sehfähigkeiten liegen. Besonders geeignet ist sie dafür zu zeigen, was es mit den Dingen aus der Vergangenheit wirklich auf sich hat, und die Geheimnisse der menschlichen Seele zu entschlüsseln. Diese Kugel hier, Miss Allston, benutzt man zum Wahrsagen. «
    Wahrsagen – was für ein seltsames Wort. Ein Schauder durchlief Sibyl. Würde sie wirklich gleich die Wahrheit erfahren? Plötzlich spürte sie, wie ihr aus unerfindlichen Gründen die Tränen kamen. Aber dieses Gefühl musste sie unterdrücken. Sie konnte nicht einfach in Mrs Dees Salon anfangen zu weinen. Andererseits war Sibyl in all den Jahren, in denen sie an den Séancen teilgenommen hatte, Zeugin von allerlei Gefühlsregungen geworden, die normalerweise in einem Salon der guten Gesellschaft nichts zu suchen hatten. Doch irgendwie galten hier andere Regeln; man befand sich im Schutz der Dunkelheit dieses Raumes und wusste, dass jeder über die Schwächen der anderen Stillschweigen bewahren würde. Dennoch war ihr der Gedanke schrecklich, hier ganz allein mit Mrs Dee, unter ihrem forschenden Blick, einen Zusammenbruch zu erleiden.
    » Wieso, Mrs Dee? « , fragte Sibyl und kämpfte mit einem erzwungenen Lächeln gegen ihre Tränen an. » Was meinen Sie? «
    » Wahrsagen ist ein eher altmodisches und auch ungenaues Wort, denn oft genug denkt man dabei nur an die sprichwörtliche Zigeunerin, die einem aus der Hand liest « , erklärte Mrs Dee in schulmeisterlichem Ton. » Leider müssen wir oft auf solch altmodische Worte zurückgreifen, auch wenn wir damit neue und moderne Phänomene beschreiben, denn bedauerlicherweise fehlt unserer modernen Zeit oft die Sprache, um über die Welt zu reden, die jenseits unserer normalen Wahrnehmung liegt. Es ist ein Jammer, dass die Welt der Wissenschaft sich so wenig für die Arbeit interessiert, die wir hier machen. «
    Mrs Dee schüttelte den Kopf, um zu bekräftigen, wie schade sie das fand. Sibyl war verwirrt; schließlich war Professor Friend durchaus schon eine Weile aktiv damit beschäftigt, mithilfe wissenschaftlicher Prinzipien zu erforschen, wozu Menschen fähig waren. Sibyl war davon ausgegangen, dass Mrs Dee dies wusste und deshalb versuchte, ihr Tun vor diesen Leuten geheim zu