Die Frauen von der Beacon Street
Speisezimmer aussöhnen, wo ihm von Mrs Doherty aufgewartet wurde, die ihm mit ihrem vernichtenden Blick und ihrem Schweigen nur allzu deutlich zu verstehen gab, wie wenig sie das Verhalten seiner missratenen Kinder billigen konnte. Sibyl wusste, was ihr beim Heimkommen blühte, und wäre einen Moment lang am liebsten gleich nach Hause geeilt und nie mehr zu Mrs Dee zurückgekehrt.
Sibyl bemerkte, dass sie vergessen hatte, sich auf die Kristallkugel zu konzentrieren. Ihre Gedanken waren ganz woanders gewesen. Sie schaute zu Mrs Dee, um festzustellen, ob das Medium ihre Zerstreutheit gespürt hatte, doch die Dame schien vollkommen in ihre Arbeit versunken zu sein. Sibyl atmete erleichtert aus und wandte ihre Aufmerksamkeit mit einem winzigen Schuldgefühl wieder der Kugel zu.
Ihre Oberfläche hatte sich verändert. Die kleinen Lichtpunkte schienen matter und auch träger geworden zu sein, fast als wären sie hinter einer Rauchschicht verborgen. Sibyl blinzelte, um ihre Augen zu befeuchten. Nein, sie waren klar, es war die Kugel, die milchiger geworden war. Da sie vollkommen unerwartet bei Mrs Dee hereingeplatzt war, brannte kein Feuer im Kamin, folglich konnte es auch kein Rauch aus dem Abzug sein. Doch, Moment, Mrs Dee hatte ja gesagt, sie habe gewusst, dass Sibyl kam. Seltsam. Und es war den ganzen Tag so grau und kühl gewesen, dass ihr Vater für den Abend sogar mit leichtem Frost gerechnet hatte. Wie auch immer, ein Feuer brannte nicht. Der Docht der Lampe war sauber gestutzt; auch sie rauchte folglich nicht. Sibyl sah genauer hin.
Sie hatte das Gefühl, Wolken über die Oberfläche des Glases hinwegziehen zu sehen. Rauch oder Wolken? Sibyl konnte es nicht sagen. Plötzlich zog sich der Dunst kräuselnd in sich zurück, wie Spiralen, die langsam flacher wurden und dann ganz verschwanden.
» Da! « , rief Mrs Dee, und Sibyl sprang bei dem unerwarteten Ertönen ihrer Stimme vor Schreck auf. » Da, ich sehe sie! Ihr Gesicht, genau wie sie ausgesehen hat! Ach Helen, meine verlorene und so tief betrauerte Freundin! «
Sibyl starrte in die Kugel, verwirrt. Der Rauch hatte sich verzogen. Jetzt war die Kugel wieder ein hübsches, glitzerndes, unbelebtes Objekt.
» Wie gesegnet bin ich, meine müden Augen auf dein Antlitz richten zu dürfen! « , rief Mrs Dee in der für sie so typischen gestelzten Ausdrucksweise. Sibyl fragte sich manchmal, ob sich Mrs Dee für ihre Auftritte die Darstellung von Medien im Kintopp zum Vorbild nahm. Andererseits passte die dramatische Art sehr gut zu der kleinen Person. Die schwülstige Sprache verlieh ihr eine Würde, die ihrer physischen Gestalt abging.
Sibyls Blick wanderte zwischen dem Gesicht des Mediums und der Kugel hin und her, aufmerksam und wach. Mrs Dee gab mit ihrem Verhalten zu verstehen, dass sie in der Kugel etwas klar und deutlich erkennen konnte, doch sosehr Sibyl es auch versuchte – sie sah nichts. Weniger als nichts. Sie sah bloß noch einen geschliffenen Ball aus Glas.
» Mrs Dee « , begann sie, doch das Medium gebot ihr Einhalt, indem es einen seiner Stummelfinger hochhielt. So zurechtgewiesen, ließ sich Sibyl in ihren Stuhl zurückfallen. Als sie ganz ruhig dasaß, fuhr Mrs Dee fort.
» Helen, meine Liebe, Sie wissen doch bestimmt, warum wir Sie herbeigerufen haben. Warum wir Sie – wenn auch nur ungern – aus dem Paradies aufscheuchen, in dem Sie sich, wie wir tief in unseren Herzen wissen, aufhalten. «
Mrs Dee hielt inne, die Augen geschlossen, die Mundwinkel zu einem etwas gewollten Lächeln verzogen. Als sie die Augen wieder öffnete, huschten sie zu Sibyl hinüber, die kurz einen Blick von ihnen auffing und sich dann abermals der Glaskugel zuwandte.
» Ich bin hier mit Sibyl, Ihrer geliebten Tochter. Sie macht sich solche Sorgen, meine Liebe, und ich weiß, Sie sehnen sich danach, sie zu trösten. Wünschen sich nichts so sehr, als aus dem Grabe nach ihr die Arme auszustrecken und den Kummer aus ihrem fiebrigen Antlitz zu streichen! « Mrs Dees Stimme erhob sich voller Pathos. Dabei reckte sie das Kinn zur Decke des schummrigen Salons empor, um ihren Bitten Nachdruck zu verleihen.
Sibyl faltete die Hände in ihrem Schoß und senkte den Kopf. Ihre Nasenflügel bebten.
» Doch wie? Was sagen Sie da? « , rief Mrs Dee, hielt sich die Kugel unter die Nase und spähte hinein, wie ein Kind in ein gerade geöffnetes Weihnachtsgeschenk. Es trat ein langes, quälendes Schweigen ein. Einer der Fingernägel von Sibyl bohrte sich tief in ihre
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