Die Frauen von der Beacon Street
Handfläche.
» Ach! « , seufzte Mrs Dee.
Sibyl beugte sich vor.
» Ach, wie wundervoll! « , rief das Medium aus. » Helen, das werde ich ihr sagen. Gleich werde ich es ihr sagen. « Dann schloss das Medium die Augen und ließ die Kugel in ihren Schoß sinken.
Sibyl schob ihre schwelende Skepsis beiseite und packte die Armlehnen ihres Sessels. Sie fühlte sich närrisch und voller Hoffnung zugleich und musste sich dazu zwingen, in ihrem Stuhl sitzen zu bleiben. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie das Gefühl hatte, man könnte es unter der Haut pochen sehen wie ein bebendes Etwas unter dem zarten Leinen ihrer Bluse.
Nach einer Weile – Sibyl war sich nicht ganz sicher, wie lange es dauerte – sah sie, wie Mrs Dees Augenlider wie Mottenflügel über ihren runden Wangen zu flattern begannen. Jetzt tauchte die Frau aus einer nicht näher zu bestimmenden, anderen Bewusstseinsebene empor, seufzte zufrieden und wandte sich an Sibyl.
» Meine Liebe, ich habe wunderbare Neuigkeiten zu berichten « , begann Mrs Dee. » Ich habe noch einmal mit dem Geist Ihrer Mutter kommuniziert. Wie gesegnet wir sind! Konnten Sie sie sehen? Konnten Sie? «
Ein lautes Summen war in Sibyls Ohren, und sie hob enttäuscht die Schultern.
» Nein, Mrs Dee « , sagte sie mit ganz kleiner Stimme. » Ich konnte sie nicht sehen. Bitte, bitte verraten Sie mir doch, was sie gesagt hat. Sagen Sie mir, wie ich Harlan helfen kann. «
Mrs Dee streckte eine weiche Hand aus und tätschelte Sibyl am Knie. » Sie armer Schatz « , murmelte sie. » Aber Sie haben nichts zu befürchten. Ihre Mutter bat mich, Ihnen zu sagen, dass sie Ihre Probleme sieht. Es tut ihr leid, dass die ganze Last des Haushalts auf Ihren Schultern liegt. Sie möchte, dass Sie wissen, dass sie Sie liebt und Ihre liebe Schwester ebenso. «
Sibyls Mund zuckte, teils aus Erleichterung, aber hauptsächlich aus Schuldbewusstsein, weil sie den ganzen Nachmittag noch überhaupt nicht an Eulah gedacht hatte. Eulah, die die Kosten für die große Europareise wert gewesen war. Eulah, von der alle so sicher gewesen waren, dass sie eine vorteilhafte Ehe eingehen würde. Eulah, die so hübsch gewesen war wie Helen, gar nicht so gesetzt und bieder wie Sibyl, die ganz nach den Allstons geraten war. Es gab Zeiten, in denen Sibyl befürchtete, sie sei in einem finsteren Winkel ihres Herzens erleichtert darüber, dass es Eulah gewesen war, der man erlaubt hatte, an Bord jenes unheilvollen Dampfers zu gehen, und nicht sie selbst. Doch kaum begann dieser unwillkommene Gedanke in ihr aufzusteigen, schob Sibyl ihn als unmöglich beiseite. Sie hatte ihre Schwester geliebt. Alle hatten ihre Schwester geliebt. Sie war jung gewesen, ein prachtvolles, unkonventionelles Wesen voller Esprit, sie …
Ohne dass Sibyl es bemerkt hatte, trat eine Träne in ihren Augenwinkel, lief über ihre Wange und blieb auf ihrer Oberlippe hängen. Der salzige Geschmack brachte Sibyl in die Wirklichkeit zurück, und sie blickte niedergeschlagen in ihren Schoß. Ohne aufzuschauen, flüsterte sie: » Was ist mit meinem Bruder, Mrs Dee? Was hat Mutter über ihn gesagt? «
Die Hand auf ihrem Knie blieb liegen, wo sie war, drückte kurz, wie um sie zu beruhigen. » Sie sieht Ihre Angst um ihn « , murmelte Mrs Dee. » Sie sieht sie, und sie fühlt mit Ihnen. Doch Sie sollen wissen, dass mit Ihrem Bruder alles gut wird. «
Sibyl blickte aus tränennassen Augen forschend in Mrs Dees Gesicht.
» Ja, das wird es « , bestätigte das Medium und beantwortete damit Sibyls unausgesprochene Frage. » Sie müssen geduldig sein. Sie müssen warten. Aber alles wird gut. «
» Wirklich? « , flüsterte Sibyl.
Das Medium lächelte ein wenig selbstzufrieden.
Die beiden Frauen saßen da, schauten sich beim flackernden Licht der Öllampe über den Teetisch hinweg an. Sibyl hatte keine Ahnung, wie spät es war. Mittlerweile würde ihr Vater sich Sorgen machen. Doch wenn es stimmte, was das Medium sagte? Vielleicht brauchte sie ja überhaupt nichts zu tun. Vielleicht war ja Harlan während ihrer Abwesenheit sogar nach Hause gekommen.
Sibyl stand auf, zog ein zerknittertes Taschentuch aus ihrem Ärmel und betupfte sich damit die Augen. Auch Mrs Dee erhob sich und gab dem Butler ein Zeichen, der auf leisen Sohlen im Zimmer umherging und die Lichter anzündete. Er zog die Samtvorhänge vor dem Fenster zurück, doch über Beacon Hill war es Nacht geworden, und das letzte schwache Sonnenlicht des Nachmittags war verglüht. In den
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