Die Frauen von der Beacon Street
schicksalsergeben. » Obwohl ich hoffe, dass sich bald alles klären wird. «
» Von wegen klären! « , bellte ihr Vater und senkte die Zeitung gerade so weit, dass sie einen Blick seiner stahlgrauen Augen unter den buschigen Brauen erhaschen konnte. » Wenn es außer ein paar armseligen Siedlern niemanden gibt, der die Westfront schützt? Und ausgerechnet Belgier ? «
» Oh « , machte Sibyl, und ihre Anspannung legte sich ein wenig. Sie wich dem stahlgrauen Blick aus und tat so, als wäre sie mit dem Papagei beschäftigt. » Nein, natürlich nicht « , sagte sie und drehte ihm dabei den Rücken zu, beschämt darüber, ihn missverstanden zu haben. » Ich nehme an, du hast recht. «
Ihr Vater ließ die Zeitung noch ein Stück weiter sinken, sodass auch das andere eisige Auge zu sehen war. » Du redest von etwas ganz anderem, merke ich « , stellte er fest. Die Unterhaltungen zwischen Lan und Sibyl begannen oft mittendrin, weil meistens beide wussten, was der andere dachte.
Sibyl seufzte und begab sich zu dem Lehnstuhl, der ihm gegenüber stand. Ihr Vater saß auf seinem klassizistischen Sessel, der mit seinen stämmigen, geschwungenen Beinen für Lans Körperbau fast wie gemacht schien, und hatte die Füße in Richtung Kaminfeuer gestreckt. Als sie ihrem Vater ins Gesicht sah, bemerkte Sibyl, dass er die gelassene Miene eines Mannes zur Schau trug, den nichts so leicht aus der Bahn wirft. Dieses Gesicht hatte sie in letzter Zeit nicht mehr allzu oft an ihm gesehen.
» Wie war das Essen? « , fragte sie wenig interessiert.
» Bah « , sagte er und hob die Zeitung wieder auf Augenhöhe. » Hab einen Abstecher zu Locke-Ober gemacht. Hatte Lust auf eine anständige Hummersuppe. « Er hob einen Moment lang die Augenbrauen in Richtung seiner Tochter, die verständnisvoll mit der Zunge schnalzte.
» Ich bin mir nicht sicher, ob Betty dir das verzeihen wird. « Sie sank in dem Sessel zurück und schmiegte den Kopf an seine Seitenlehne. Vor einigen Jahren, kurz nach ihrer Einstellung als Köchin an der Beacon Street 138 ½, hatte Betty Gallagher, um ihre neuen Arbeitgeber mit ihren kulinarischen Fähigkeiten und ihrer Sparsamkeit zu beeindrucken, eine Fischsuppe aus dem Hummer zubereitet, den ihr, wie Sibyl später bei einem tränenreichen, vertraulichen Moment im Küchengarten erfahren hatte, ein junger Mann bei einer Tanzveranstaltung überreicht hatte. Ein Geschenk, hatte er ihr gesagt, obwohl sie nicht gewusst hatte, wo er den Hummer herhatte, da es sich bei dem Burschen keineswegs um einen Fischhändler handelte. Betty hatte behauptet, er habe ihr gesagt, der Hummer sei von einer Lastkutsche heruntergefallen.
Sibyl war eine überaus dankbare und wissbegierige Zuhörerin, wenn es um Bettys Schilderungen ihrer abendlichen Unternehmungen galt, welche sie oft zu den Vorführungen eines Wanderkinos, zu Varietés und eben auch zu Tanzveranstaltungen führten, die Betty, wie Sibyl vermutete, mit anderen jungen Frauen aus ihrer Kirchengemeinde besuchte. Bettys Ursprünge waren zumindest den Allstons unbekannt. Sibyl wusste, dass die junge Köchin außerhalb ihres heimischen Wirkungskreises ein abwechslungsreiches und von zahlreichen Bekanntschaften bevölkertes Leben führte, obwohl dessen genauere Umstände sorgfältig verborgen wurden – ganz gewiss vor Lan, aber früher wohl auch vor Helen. Jedenfalls hatte sich herausgestellt, dass es sich bei dem Hummer von dem Jungen aus dem Tanzsaal um Abfall aus einem nahen Restaurant gehandelt hatte und Betty einfach nur zu vernarrt in den gut aussehenden jungen Mann gewesen war, um sich darum zu scheren. Leider mangelte es Betty des Öfteren an gesundem Menschenverstand, wenn ein gut aussehender junger Mann ins Spiel kam. In diesem Fall hatte sie mit ihrer Verblendung dafür gesorgt, dass der gesamte Haushalt mit etwas, das Lan zu Helens Entsetzen als » gottverdammten Dünnpfiff « tituliert hatte, drei Tage lang das Bett hüten musste.
Helen hatte mit gewohnter Entschlossenheit auf das Desaster reagiert, indem sie fortan jegliche Hummergerichte kategorisch vom Speiseplan verbannte, was sie sowieso für angebracht hielt, weil Hummer mittlerweile weitverbreitet und deshalb von der besseren Gesellschaft zu meiden sei. Helen hatte stets eine ganze Palette von gesellschaftlichen Für und Wider in petto gehabt, denen sie bei ihren täglichen Entscheidungen im Haushalt gewöhnlich folgte, und durch dieses Raster war der Hummer gefallen. Die Familie hatte sich ihrem Urteilsspruch
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