Die Freifliegerin Ein Hexenthriller (German Edition)
du blutrote Göttin da, und dein
herrlicher Schäferhund, und all das schöne Zeug hier, und die bunten Kerzen,
und der Raum an sich. Herrlich! Es gibt übrigens Räume, die sind einfach nur
schön, weißt du. Auch wenn sie vollkommen leer sind. Ich meine mit Räumen keine
Zimmer oder sowas. Vielleicht sind es rein psychische Räume. Es gibt Räume
dieser Art, die sich gegenseitig durchdringen und verschachteln. Komplizierte
Raummuster, eigentlich unsichtbar. Aber jede Bewegung in solchen Raumsystemen
bewirkt ein Inferno an Reaktionen. Wenn in solchen Räumen eine Maus hustet,
werden neue Universen geschaffen, verstehst du!“
Eine Weile wird es ruhig. Nur
die Musik mit ihren leisen Akkorden schwebt wie Weihrauch in der Stube. Die
Kerzen flackern ein wenig, die meisten sind beinahe abgebrannt. Miriam holt
neue, zündet sie an.
Boris betrachtet sie dabei. Er
will jetzt nichts mehr sagen. Er beobachtet sie aus einer vollkommenen Ruhe
heraus. Er ist das Wasser, in dem sie badet. Er ist das Meer, in dem die ganze
Welt sich auflöst, und in dem auch er selbst sich auflöst. Und eine ganze Weile
ist da nur mehr Ruhe.
Die Hündin hat zu schnarchen
begonnen. Miriam stößt sie sanft mit der Fußspitze an, denn sie weiß, dass der
Boris jetzt wahrscheinlich hochsensibel ist und die kleinsten Geräusche für ihn
zum Lärmstress werden könnten.
„Wenn du bei diesem Trip noch
Salvia nehmen möchtest, dann wäre deine entspannte Grundstimmung jetzt
günstig“, sagt sie.
Boris blickt sie an. Er schaut
auf ihre rot geschminkten Lippen, und obwohl der Lippenstift in Wahrheit schon
fast wieder ab ist, taucht er ein in ein Universum aus blutroten Tönen.
Überscharf, fast wie durch ein Elektronenmikroskop, sieht er die feinen
Fältchen und Verästelungen ihrer glänzenden Lippenhaut. Diese Rottöne. Diese
roten Töne. Sie stellen Fragen, geben Antworten, stellen fest, erwidern,
plappern, singen.
„Eigentlich“, denkt er (hörbar
flüsternd), während er sich wie eine Katze auf der Couch zusammenrollt,
„eigentlich ist sie heute geschminkt, wie sich kleine Mädchen schminken. Ist
euch das schon aufgefallen? Viel Rot, sehr plakativ. Schön, ja, sehr schön,
Miriam sieht abgöttisch schön aus, aber auch kindisch. Wie in einem
Kindermärchen. Sie ist die Alice unter den Hexen“
Miriam schweigt dazu. Aber sie
hält seinen forschenden Blicken weiter stand.
„Auch auf ihren Wangen ist viel
Rouge“, setzt er fort, „und ebenso ihr Lidschatten: knallrot! Und es würde mich
nicht wundern, wenn auch ihre Wimpern rot gefärbt wären. In drei oder vier
Jahrzehnten wird hier, oder irgendwo anders, eine wunderschöne alte Frau
sitzen, mit roten Zähnen und einer purpurnen Zunge, krapplackroten Iris und
pfingstrosenroten Nippeln. Van-Dyck-roten Lackstilettos, magentarotem Tutu
(habt ihr übrigens gewusst, dass Tutu das französische Kinderwort für Popo
ist?), kadmiumrotem Nabel, zinnoberroten Strümpfen. Firmenfarbe: Rot.
Markenzeichen: Rot. Du bist eine Galaxis aus Rottönen, Miriam!“
Er rappelt sich von der Couch,
kriecht auf allen Vieren zu ihr hinüber, legt seine Stirn an die ihre.
„Sieh mich an“, sagt er leise.
„Betrachte mein Gesicht.“
Miriam tut, was er sagt.
„Dies ist die schönste Art, ein
Gesicht zu betrachten“, flüstert Boris. „Obwohl, oder besser, weil alles ein
bisschen unscharf und verzerrt ist, sind das die schönsten Gesichter. Siehst du
es?“
Und tatsächlich, auch Miriam
kann es so sehen!
„Ja“, antwortet sie, „wirklich,
eigenartig schön!“
„Und weißt du, warum?“,
flüstert Boris. „Weil es der Blickwinkel der Verliebten ist, die Perspektive
der Küssenden, der Viewpoint all derer, die sich aus Liebe nahekommen.“
Er steht auf, geht zurück zur
Couch, dreht sich eine Zigarette.
„Eine Freundin hat einmal
gesagt, ich hätte ein Gesicht wie Fernandel, der Schauspieler. Sie meinte das
witzig, denn sie mochte mich trotz meiner Hässlichkeit. Aber natürlich hat es
mich innerlich verletzt. Und vielleicht würde es auch Fernandel betroffen
machen, wenn er noch lebte. Jedenfalls, als wir uns dann geküsst und
miteinander geschlafen hatten, sagte sie zum mir, ich sei wunderschön. Hörst
du? Wunderschön! Das war eben diese Perspektive. So lange meine Freundin weiter
weg von mir war und mein Gesicht zerlegen konnte in ein zu langes Oval und eine
zu gekrümmte Habichtnase und einen zu großen Pferdemund, da war ich der
Hässliche. Erst als wir uns so nahekamen, dass mein Gesicht
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