Die Freifliegerin Ein Hexenthriller (German Edition)
lachen.
Er kann sich an seine Schwestern erinnern, als er noch klein war, in der Wiener
Stadtwohnung. Immer musste er als Jüngster mit seinen beiden Schwestern
Puppenküche spielen, und nicht selten gab es Zuckerwasser oder irgend einen
ekeligen Brei zu essen, den er dann runter würgte, weil er sonst alleine hätte
spielen müssen.
„Sind das vielleicht meine
Schwestern?“
Er kann es von hier einfach
nicht erkennen.
„Iris? Doris?“
Doch die zwei Mädchen reagieren
nicht. Sie hören ihn nicht. Er versucht es im Geist.
„Seid ihr Doris und Iris?“
Keine Antwort, nur die zwei
Mädchengestalten von hinten, dieser eklige Puppenküchentee, den sie trinken,
mehr nicht. Aber jetzt wenden die beiden sich kurz zu ihm. Ihre Gesichter: rot
geschminkt, rot beschmierte Lippen, rot gefärbte Wangen! Alles rot. Nur ihr
Haar nicht: eines der Mädchen ist strohblond, das andere tiefschwarz wie er
selbst.
Und plötzlich eine ganz
traurige Musik, eine elend traurige, schwere, atonale Orchestermusik, ein
Trauermarsch mit gebrochenem Takt, der alles an Traurigkeit, was er jemals
gehört und gefühlt hat, bei weitem in den Schatten stellt.
Das blonde Mädchen verdreht die
Augen. Er kann nur mehr ihr Augenweiß sehen. Das dunkle Mädchen weint.
Er will flüchten, denn er kann
diese Traurigkeit keine Sekunde länger aushalten, sie zerstört ihn und alles,
was sie berührt, alles was sie mit ihren dissonanten Schwingungen erreichen
kann. Er blickt in den Himmel. Sein Kopf ist schwer und es strengt Boris an,
ihn zu bewegen. Die Sternenjuwelen sind erloschen. Stumpf und ausdruckslos da
und dort ein matter Stern auf einem zweidimensionalen Himmel ohne jede Tiefe.
Die Wiese unter seinen nackten Füßen ist grau und klamm geworden. Diese Musik
wird ihn töten, und alles, was mit ihr in Berührung kommt, alles, alles. Dann
plötzlich dieser unglaubliche Schmerz im Bauch. Er krümmt sich zusammen.
Das überlebe ich nicht! Diese
Schmerzen!
Alles rot, auch sein Bauch, seine
Hände, alles rot. Blut! ...
„Entspann dich, entspann dich.
Komm zurück. Komm jetzt langsam zurück!“
Er spürt sein Herz wieder in
seiner Brust rasen, und er spürt diesen Schmerz in seinem Bauch, der nun ganz
allmählich verebbt, als er, an Miriams Brust, endlich alle Tränen weint, die er
sich bis hier her hat aufsparen müssen.
„Du bist zurück, mein lieber
Boris, du bist zurück. Alles ist gut, alles ist wieder gut!“
Die Hagazussa streicht über
sein langes, schwarzes Haar, drückt ihn sanft an ihren Busen. Dann holt sie ein
kleines Fläschchen aus ihrer Tasche.
„Damianatropfen“, sagt sie.
„Die vertreiben die Traurigkeit.“
Sie träufelt die Tropfen in
seinen Tee, den sie ihm reicht. Dann dreht sie ihm eine Zigarette und steckt
sie an. Er nimmt sie und raucht mit noch zitternden Fingern. Und nun kehrt
allmählich auch die Ruhe ein. Die Trauermusik in seinem Kopf verstummt. Sehr
rasch ist jetzt alles angenehm und real und still und voll von Liebe. Die
Kerzenflammen tanzen ganz ruhig, ein feiner, sakraler Duft von glosendem
Räucherwerk hängt in der Luft. Die Hündin leckt an einem Kauknochen. Die rote
Miriam schwebt zum CD-Player, legt eine schöne, sanfte Musik auf. Hie und da
noch hat er kleine optische Flashes: eine aufkeimende Blume mitten in der
Stube, oder ein kleiner Sternschnuppenschwarm draußen, wenn er aus dem Fenster
schaut.
Später, es ist mittlerweile
schon nach Mitternacht, will er mit Miriam über sein Erlebnis reden. Da war
dieses wunderbare Gefühl, selbst, durch die eigenen Gedanken, einen Teil
beizutragen, dass das ganze Universum so ist, wie es ist.
„Wie lange war ich unterwegs?“,
fragt er.
„Etwa zehn Minuten“.
„Weißt du, ich hatte das
Gefühl“, sagt er, „dass jeder unserer Gedanken das Universum formt, ganz
unmittelbar, es ist uns nur noch weniger bewusst, als das Schlagen unseres
Herzens. Und dass so durch unsere Gefühle und Gedanken das Universum sich
entwickelt. Wobei ich unter unsere Gefühle und Gedanken mehr verstehe als nur
die der Menschen. So entstehen die Strukturen, eine Art kollektives geistiges
Feld, durch unsere gemeinsame geistige Arbeit, und dann füllen wir als
Individuen diese unsichtbaren Felder oder Strukturen mit sichtbaren Bildern
aus, und mit Tönen, Klängen, Farben, Formen, Empfindungen, Gerüchen und so
weiter. Das sind dann die persönlichen Universen, deren es Myriaden gibt.“
„Was du da in deinem
Salvia-Trip erlebt hast, wurde bereits vielfach als Philosophie
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