Die Freifliegerin Ein Hexenthriller (German Edition)
formuliert.
Eigentlich ist seit Kant und seinem Gefolge jedem klar, dass die Welt nur mehr
subjektiv begriffen werden kann. Doch am krassesten wurde diese Art des Denkens
von dem berühmten amerikanischen Channeling-Medium Jane Roberts formuliert, die
anderthalb Jahrzehnte eine Persönlichkeit namens Seth channelte. Nicht zu
verwechseln übrigens mit dem ägyptischen Gott Seth. Dieser Seth postuliert,
dass wir in jedem Moment die Welt und das ganze Universum neu erschaffen. Genau
so, wie du es in deinem Trip erlebt und gefühlt hast. Vielleicht ist es ja
wirklich so. Es ist zumindest nicht mehr und nicht weniger absurd wie die
Vorstellung, dass ein Gott unsere Welt erschaffen hat. Denn man kann sich
jederzeit fragen: Wo kam dieser Gott her? Wo nahm Er seinen Anfang? Und wenn
man postuliert, dass es keinen Anfang geben müsse für Gott, dass Er eben immer
schon da gewesen sei und wir uns das in unserer begrenzten zeit- und
kausalitätsgewohnten Denkweise nur nicht vorstellen könnten, so könnten wir mit
dem selben Recht zurückfragen, warum das Universum dann einen Schöpfer braucht
und nicht ebenso für sich beanspruchen kann, schon immer da gewesen zu sein.
Ich denke aber, es gibt sehr wohl Götterhierarchien, gewachsene Götterebenen,
und vielleicht stehen wir ja auch auf einer dieser Ebenen, denn wir sind ja
ebenfalls Schöpfer.“
Eine kurze Zeit herrscht
Stille. Boris´ Sinne sind noch immer sehr geschärft. Er hört jedes kleinste
Geräusch in der Stube, das feine Knacken eines Holzwurms, das Glucksen von
Lilas Magen, das Britzeln der brennenden Kerzendochte. Und er vermeint sogar,
den Pulsschlag der Miriam zu hören.
„Da war aber noch etwas“, setzt
er dann fort. „Als ich zu einem Haus kam, sah ich die zwei Mädchen, zuerst nur
von hinten und als Schattenumrisse. Sie spielten mit ihrer Puppenküche. Ich
schaffte es dann, durch die Wand ins Haus einzutreten, konnte mich aber bei den
Kindern nicht bemerkbar machen. Sie tranken irgend einen selbst gebrauten Tee
aus kleinen Puppenschüsselchen. Ich dachte zuerst, das seien meine zwei
kindlichen Schwestern, wie sie vor mehr als zwanzig Jahren ausgesehen haben.
Dann aber wendeten sie sich kurz mir zu, und ich sah ihre knallig rot
geschminkten Gesichter, lauter rote Schminke. Und das erinnerte mich an deine
rote Schminke, es erinnerte mich an dich, dieses Rot. Und zuletzt kam dann
diese todbringende Musik, sie war so traurig, so schwer und so unbegreiflich,
dass es mich noch jetzt, wenn ich daran denke, ganz bedrückt. Eines der beiden
Mädchen verdrehte die Augen, als verlöre es das Bewusstsein. Das andere begann
zu weinen. Und auf einmal verblasste mein wunderschönes, hyperreales,
tiefenscharfes Universum zu einem dumpfen Abklatsch. Alles war nur mehr traurig
und schwer, und ich musste auftauchen aus diesem Trip wie aus einem tiefen
Brunnen, in dem ich sonst ersoffen wäre.“
Boris setzt sich auf und reibt
sich die Stirn. Er nimmt sich eine Zigarette, zündet sie an. Dabei spürt er,
dass er allmählich vollkommen ernüchtert.
„Ich kann es leider auch nicht
deuten“, sagt die Hagazussa. „Ich kann keine Verbindung erkennen. Das ist
schade, denn irgendwie spüre ich auch, dass diese Vision nicht ohne Bedeutung
ist.“
Miriam erinnert sich an ihre
eigene, recht undeutliche Vision im Kuhstall des Karner Bauern. Gibt es da
einen Zusammenhang? Irgendetwas wird geschehen, das weiß sie plötzlich, und
behält es für sich: Ein Unglück wird passieren!
10
Die Hagazussa ist wieder in
ihrem Zigeunerwagen und füttert ihre Tiere. Als sie sich vor ein paar Stunden
von Boris in seiner Almhütte verabschiedete, fragte er sie in seiner unschuldig
frechen Art, wie sie es denn eigentlich mit der Liebe halte. Sie hatte ihm zur
Antwort nur einen scherzhaften Klaps auf die Stirn gegeben und weiter nichts
dazu gesagt.
Doch hat Boris´ Frage Miriam
nachdenklich gemacht. Selbst noch ganz offen und verletzlich von ihrer
nächtlichen Arbeit als Tripsitterin, geht ihr diese Frage merkwürdiger Weise
jetzt irgendwie zu Herzen. Schon eine ganze Weile lebt sie alleine mit ihren
zwei Katzen und der treuen Lila. Seit vor zwei Jahren ihr kranker Vater
verstarb, um den sie sich eine Weile bis zu seinem Tod gekümmert hatte, war sie
stets nur unterwegs. Eine Art Wanderhexe. Und auch wenn sich da und dort genug
Gelegenheiten ergeben hätten, so blieb es doch immer bei mehr oder weniger
prickelnden Flirtepisoden und ein paar unverbindlichen One-Night-Stands.
Was Miriam
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