Die Freifliegerin Ein Hexenthriller (German Edition)
ihm. Da sieht
er, dass Elses Handy am Tischchen neben ihrem Bett liegt. Sie hat das Telefon
gar nicht mitgenommen! Immer wieder predigt er, dass sie das Mobiltelefon
mitnehmen soll, wenn sie sich vom Hof entfernt. Wenn es diesen neumodischen
Kram nun schon einmal gibt, dann soll er auch zu etwas nütze sein. Alle andern
Kinder haben Tag und Nacht ihre Handys bei sich und telefonieren ständig damit
herum. Nur Else vergisst ihres meistens zu Hause.
Zwei Stunden später ist die
Else noch immer nicht zu finden, und allmählich kehrt die Dämmerung ein. Längst
hat der Karner die Christl alarmiert, auch die Nachbarn helfen bei der Suche.
Der kleine Ort ist ja rasch abgesucht. Ihre Freundinnen wissen nichts, und
Kathi ist mit ihren Eltern unterwegs. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit sieht
man den Karner sich schnell bewegen, und man sieht, wie sich in seinem
versteinerten Gesicht etwas zu regen beginnt.
Ob die Else was davon getrunken
hat? überlegt Kathi, die schon etwas müde von der Heimfahrt auf dem Rücksitz
des Wagens sich an ihre Mutter kuschelt. Während das Handy des Vaters vorne
läutet und er spricht, fallen ihr bereits die Augen zu. Sie hat die ganzen
Hexensachen am Heuboden oben liegen lassen müssen. Hoffentlich hat Else sie
versteckt.
Da spürt sie plötzlich ein
drängendes Gefühl im Magen und ihr Körper wird mit Wucht nach vorn gezogen. Der
Vater hat den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen gebracht. Sie reißt die
Augen auf.
„Kathi!“, schreit der Gravogl.
„Du warst doch am Nachmittag mit der Else beim Karner am Heuboden. Die Else ist
verschwunden. Und der Karner hat merkwürdiges Zeug am Heuboden gefunden.“
Kathi beginnt sofort zu weinen.
Eine ganze Weile lang kann sie gar nicht reden vor lauter Tränen, aber der
Gravogl drängt, und schließlich erzählt sie den Eltern mit schriller, heulender
Stimme die ganze Geschichte, während das Blinkerrelais des Wagens knackend auf
und ab blinkt.
„Sie ist davongeflogen!“, weint
sie schließlich. „Ich hab das nicht gewollt!“
Mutter Gravogl drückt ihre
tränennasse Tochter an die Brust und lässt sie weinen. Der Vater indessen
steigt aufs Gas und sieht zu, dass er nach Dirnitz kommt.
Inzwischen ist es stockfinster.
Doch auf den dirnitzer Wiesen und in den umliegenden Wäldern tanzen überall
Lichter, wie kleine Feengestalten. Und man hört Rufe, und ein paar Hunde
bellen. Nur die Hagazussa merkt nichts von alledem. Sie hat die Kopfhörer ihres
MP3-Players aufgesetzt und liegt entspannt auf ihrem Bett. Und sie hat sich
entschlossen, schon morgen abzureisen.
Kathi ist vom Weinen völlig
entkräftet, als sie von ihrer Mutter ins Haus gebracht wird. Der Gravogl hat
sich inzwischen dem Suchkommando angeschlossen. Polizei, Feuerwehr und
Bergrettung sind alarmiert. Dr. Zöchling, der Gemeindearzt, hat sich die
gefundenen Sachen vom Heuboden angeschaut. Darunter ein leeres Glas mit der
Aufschrift Brugmansia - Engelstrompete, und ein halb leeres mit der Aufschrift
Aconitum - Eisenhut. Die Kinder haben Tee daraus gemacht. Else schwebt in
allerhöchster Lebensgefahr, wenn sie davon getrunken hat! Gravogl dankt dem
Herrgott, dass seine Kleine nichts davon zu sich nahm, als sie ihn am Heuboden
rufen hörte.
Wieder eine Stunde später, um Mitternacht,
ist Lagebesprechung am Karnerhof. Das Blaulicht des Polizeiwagens tänzelt in
regelmäßigen Kreisen über den Hof, die halbe dirnitzer Bevölkerung steht mit
betretenen Gesichtern herum, unter ihnen auch der Bürgermeister Gerstl, der
Pfarrer Teufl und Boris, dem von seiner Almhütte aus die Lichter aufgefallen
sind. Niemand hat auch nur eine Spur von Else entdeckt, bis auf ihre Weste, die
man in der Weidewiese neben dem Hof fand. Nur die Bergrettung ist noch im
Silberwald unterwegs, wo es ein paar kleine Höhlen gibt.
Eine Flasche mit Obstler und
ein paar Gläser machen die Runde. Der Karner steht da und weint wie ein kleines
Kind. Die alte Tröstl, seine Nachbarin, reicht ihm ein Taschentuch.
„Das wird schon wieder,
Johann“, sagt sie, und tätschelt ihm auf den Rücken. „Die Else ist sicher nur
spazieren gegangen, vielleicht irgendwo gestolpert und kann jetzt nicht mehr
alleine nach Hause laufen. Wir werden sie finden, verlass dich drauf! So weit
kann die ja nicht weg sein.“
Aber die Leute hier können des
Karners Sorge schon verstehen, nachdem er erst vor ein paar Jahren seine Frau
verloren hat. Wie zum Trost streift auch die Minka um die Beine des
Karnerbauern. Zuerst bemerkt es
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