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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Gruppensitzung nicht mehr darauf ansprechen können.
    Schöne Hände.
    Schöne Hände
.
    – Schließlich sägten die Ärzte den Metallstab ab und ließen den Rest im Gehirn des Mannes stecken. Er war natürlich vollkommen verstört seit dem Unfall, aber eine Therapie half ihm, damit umzugehen, und am Ende nahm er den Stab in seinem Kopf sogar als eine Art Mitbewohner an und gab ihm einen Namen. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, welchen. Und Sie, Gabi – Sie hatte Gabis Hand ergriffen, weil nichts anderes in der Nähe war –, Sie müssen genau dasselbe tun. Sie müssen das kennen lernen, was Sie quält. Nur so kann es geschwächtwerden. Ich schlage Ihnen folgende Übung vor: Spielen Sie ein Instrument? Großartig. Dann setzen Sie sich hin, spielen Sie ein paar Noten. Und wenn Sie bei einer Note sind, die dem Ton in Ihrem Ohr ähnlich ist oder nahe kommt, spielen Sie ihn noch einmal. Nehmen Sie vielleicht auch ein anderes Musikinstrument zu Hilfe, das nahtlos verstellbare Tonhöhen hat, nicht wie bei einem Klavier. Zum Beispiel eine Gitarre. Oder eine Geige. Damit können Sie die Tonhöhe ganz genau treffen. Als nächstes bestimmen Sie die Frequenz. Schlagen Sie in einer Tabelle nach oder rechnen Sie es nach. Verwenden Sie eine Stimmgabel. Das ist der erste Schritt zu einem Namen. Bei den nächsten Schritten werde ich Sie selbstverständlich begleiten. Aber diesen ersten müssen Sie ganz allein bewältigen.
    Das therapeutische Händchenhalten ging automatisch in ein Händeschütteln über, dieses in ein gegenseitiges Bedanken, dem eine Verabschiedung folgte.
    Jetzt konnte sie nur mehr an den Metallstab denken, der im Kopf des amerikanischen Bauarbeiters steckte. Metallstab, Metallstab, Metallstab. Absägen. Metallstab. Namen.
    Welchen Namen konnte man einem Metallstab geben, der im eigenen Gehirn feststeckt, vielleicht sogar genau in der Region, die für das Erfinden von Namen zuständig ist?
Bob the Stick. Heavy Metal Joe
. Oder
God II
.
    Das Problem an der ganzen Sache war, dass es gar keine Frequenz mehr war, kein einfacher Dauerton, sondern ein Schwirren von Stimmen, mit einer Hauptstimme, die mit ihrer hellen Degenspitze immer wieder hervorstach (und die Gabi auf ihrer Stirn spüren konnte). Da ihr nun wirklich nichts mehr einfiel, versuchte sie, diese Stimme zu imitieren.
    Und siehe da, es war ganz leicht. Sie musste der Lösung all ihrer Probleme auf der Spur sein!
    Bald hatte sie das perfekte Abbild der Stimme gefunden. Sie übte es einige Male vor dem Spiegel und spürte, wie sich Aufregung in ihr ausbreitete.
    – Schilf, sagte ihr Spiegelbild.
    Ähnliche Wortfetzen kannte sie von ihrem Ohrgeräusch.
Schilp
.
Wilk
.
Zint
. Meist hatte das Wort ein kurzes I in der Mitte. Dass sie jetzt ein Wort ausgesprochen hatte, das tatsächlich existierte, fühlte sich an wie der Schlüssel zu einem weiteren Geheimnis, das in dem Ohrgeräusch verborgen war.
    – Schild, murmelte sie aufgeregt in den Spiegel. Wild. Zimt.
    Ich habe es, dachte sie. Das muss es sein. Ich muss die Dinge geradebiegen, die aus irgendeinem Grund unvollständig durch mein Gehirn geistern. Vielleicht ist gerade das der Grund, warum sie dort feststecken – ihre Sinnlosigkeit.
    Den ganzen Morgen sprach sie einsilbige Wörter mit einem I in den Spiegel. Ihr Gesicht war ein wenig fleckig, fand sie. Sie streckte die Zunge heraus und untersuchte sie. Die Zunge zeigte Zahndruckspuren, die sie ein wenig eckig erscheinen ließen.
    – Bild. Still. Kinn.
    Ein Metallstab. Ein glänzender, feuchter, schwarzer Metallstab quer durch den Kopf. Gabi drehte ihren Kopf, bis sie ihre Schläfe sehen konnte und das zittrige Haar, das darauf wuchs. Ihre Spiegelhand strich über die Stelle.
Da durch
. Eine glatte Durchdringung. Sie stand ganz kurz vor der Lösung. Natürlich – Wörter mit kurzem I in der Mitte waren wie Schädel, in denen ein dünner Stab steckte. Und die Konsonanten waren das Fleisch, das verdrängt wurde.
Gabi, Sie haben einen dicken, fetten I-Träger in Ihrem Schädel stecken, dem Sie einen Namen geben müssen
. Ein glänzendes, schwarzes I. Quer durch den Kopf. Ein transkontinentaler Metallstab. Gabi spürte, wie ihr Tränen über das Gesicht rannen. Jetzt sah ihr Spiegelbild aus wie eine wundertätige Madonnenstatue. Ja. Das musste es sein, was Valerie mit ihrer geheimnisvollen Erzählung andeuten hatte wollen. Gabi überlegte, ein Finger wanderte an ihre Oberlippe und begann dort wie eine Biene zu kreisen. Metallstab, Metallstab,

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