Die Frequenzen
Mauscursor wackelte ein wenig, auch er war sehr aufgeregt. Zweimal klickte er daneben.
Dann öffnete sich ein neues Fenster.
Lichter. Wahrscheinlich unscharf gefilmte Glühwürmchen. Sie umkreisten einen weit im Hintergrund liegenden Berggipfel. Dazu eine sehr erregte amerikanische Stimme und ein Kommentar wie zu einem Pornofilm:
Oh my GOD, it’s coming … I can see it … It’s fucking COMING … there it is … Wahoo! … oh my GOD, I can’t beLIEVE … look at THAT … oh my GOD
.
Dann wechselte ich über zu einer Webcam, die auf den Hudson-River blickte. Eine hübsche und handliche Version des Jenseits. Eine Frau ging ruckelnd und zitternd durch das Bild, ging um die namenlose Straßenecke, die man gerade noch erkennen konnte; sie führte einen Hund an der Leine. Niemand würde je wissen, wer sie war. Niemals würde ich mit ihr Kontakt aufnehmen, mit ihr sprechen, nicht in einer Million Jahren. Aber sie hatte einen Hund an der Leine. Einen kleinen, schwarzen Dackel.
Auf einer anderen Seite, die ich seit einigen Monaten regelmäßig besuchte, konnte man inszenierte Todesvideos sehen. Künstler aus aller Welt beteiligten sich an dem Projekt. Es ging im Prinzip einzig und allein darum, Mord- oder Selbstmordvideos zu produzieren, die einen bestimmten Fehler hatten. Anschließend diskutierten nervöse Fans nächtelang in Foren, welcher Fehler das gewesen sein mochte.
He’s dying too fast I’m tellin ya!
Oder:
There is no fucking blood
.
Wie ich sah, hielt die Kontroverse um das Omensetter-Video (ein Selbstmord-Stunt mit einer Schlinge) immer noch an. Die Fans beschimpften sich inzwischen mit ihren Deutungsvorschlägen. Devvil235 schrieb:
Stfu. At 2:11 ucan see his goddam eyes move
. Darauf konterte ein gewisser SirhanSirhan:
You idiots havent noticed that he’s wearin a fake head! LOL!
Die Frequenzen
Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Sie hatte das Programm befolgt. Das Schwirren und Brausen, das sich ihr von hinten näherte, hatte sich unterdessen verändert, allerdings nicht aufgrund ihrer Konzentrations- oder Singübungen. Dass der Hauptton in dem Brausen, das entfernt dem Gemurmel abendlicher Kirchenglocken über der Stadt ähnelte, ein unreines D war (in etwa 300 Hertz), war zwar genau betrachtet sehr bemerkenswert und vielleicht sogar ein wenig beruhigend, aber an der lästigen inneren Tontraube war dennoch etwas Rätselhaftes und Unerklärliches, vor allem, was ihre spontanen Verwandlungen anging.
Um es kurz zu sagen: In die schabenden, schwirrenden Geräusche mischten sich von Zeit zu Zeit geisterhafte Fetzen einer menschlichen Stimme.
Gabi kannte dieses Phänomen von zischenden Wasserleitungen, von Aufnahmen von menschlichem Applaus im Fernsehen oder auf Schallplatte, oder vom Knistern von Alufolie. Das Fragment eines erinnerten Telefongesprächs tauchte auf und verschwand wieder.
Mit Valerie hatte sie noch nicht darüber gesprochen. Sie hatte ihr bei einer ihrer Einzelsitzungen geraten:
– Gabi, Sie müssen es als einen Teil von sich selbst akzeptieren. Ich weiß, das sagt sich so einfach dahin, und ich bin mir auch darüber im Klaren, dass Sie sich das im Augenblick noch nicht vorstellen können. Noch ist das Geräusch ein Fremdkörper,
der
Fremdkörper, gegen den sich Ihr Bewusstsein wehrt, Tag und Nacht, im Traum wie im Wachzustand. Aber das wird sich ändern. Es verändert sich. Wenn Sie einige meiner Punkte befolgen, kannes sein, dass Sie diesen Prozess ein wenig beschleunigen, vielleicht sogar um ein erhebliches Maß. Gabi, ich möchte Ihnen eine kleine Vergleichsgeschichte erzählen. In Amerika fiel ein Mann, der bei einem Bauunternehmen arbeitete, in eine Grube und rammte sich einen Metallstab, etwa von dieser Länge und etwa so dick, direkt durch den Kopf. Durchs Gehirn. Sein Glück war, dass der Metallstab keine lebenswichtigen Zentren zerstört hat, sondern hauptsächlich Gebiete, die für die Koordination seines linken Armes zuständig waren. Außerdem wurde das Sehzentrum beschädigt, sodass er ab diesem Zeitpunkt farbenblind war. Entfernen konnte man den Stab nicht, das wäre zu gefährlich gewesen, also konzentrierte man sich darauf, ihn zu stabilisieren, mit einem Metallgerüst rund um den Kopf, das ein wenig an eine dieser riesigen Zahnspangen erinnerte, mit denen man Mädchen quält.
Eigenartig, Valerie hatte
Mädchen
gesagt. Als hätten Buben keine schiefen Zähne. Vermutlich wollte sie vermeiden, dass Gabi an Walter dachte. Sie hatte ihn nach der albernen
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