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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Sie müssen sich nicht jedes Mal anstellen, sagte Valerie, alsWalter vor ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte.
    Sie war unfrisiert wie immer und roch nach Desinfektionsmitteln oder irgendeiner chemischen Seife. Außerdem schien sie wieder übernächtig, die winzigen Äderchen in ihren Augen hatten sich zu einem rötlichen Netz verdichtet. Sie hatte ihre Uhr vom Handgelenk genommen und vor sich auf den Schreibtisch gelegt. Die Zeiger fuhren vorschriftsmäßig im Kreis, und Valerie sah alle paar Sekunden darauf, als wäre das der interessanteste Vorgang, den sie je beobachtet hatte. Oder sie betrachtete ihre Schuhe, die mindestens ebenso interessant schienen.
    Im Zimmer der Therapeutin hing ein neues Bild, das Walter gleich beim Eintreten aufgefallen war. Eine altertümliche Schrift buchstabierte den rätselhaften Namen
MÉLIÈS
, ein Wort, das den Betrachter mit den erhobenen Augenbrauen seiner Accents anstarrte, über einer menschengesichtigen Mondscheibe, deren linkes Auge von einer Rakete durchbohrt war. Das Bild kam ihm bekannt vor. Aber woher?
    Eine hingekritzelte Bildunterschrift:
Für Val von Al
.
    – Ja, sicher, sagte Walter abgelenkt, aber ich habe mir … nur gedacht, dass es so vielleicht besser aussieht. Es sollen ja nicht alle wissen, dass ich gar kein Patient bin.
    Valerie kämpfte ein Gähnen nieder, schwieg und sah wieder auf die Uhr. Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie hinters Ohr.
    – Wir haben uns noch nicht über das Honorar unterhalten, sagte sie. Viel kann ich leider nicht zahlen.
    – Okay, sagte Walter.
    Er hatte so etwas schon erwartet, aber jetzt, da sie es sagte, war er doch enttäuscht. Immerhin hatte er ihr demonstriert, dass er sich anstrengen konnte, und er hattesich in die fragmentarische Rolle, die sie für ihn entworfen hatte, gut eingearbeitet. Zum Teufel noch mal, er hatte sogar einen halben Nachmittag geopfert, um mit ein paar Leuten aus der Gruppe singen zu gehen, in die alte Kirche, in der fast nie jemand war. Es ärgerte ihn, dass niemand sein Talent mit Geld aufwiegen wollte.
    Valerie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und streckte sich, dabei hob ihr T-Shirt sein schläfriges Lid und präsentierte aller Welt ihren Bauchnabel, an dessen Form und Größe man sehen konnte, dass sie keine junge Frau mehr war. Mein Gott, dachte Walter etwas deprimiert, wie jugendlich sie sich heute wieder vorkommt. Mit ihrem silbrig geäderten Haaransatz, ihrer Lesebrille und der Handcreme, die penetrant nach Krankenhaus riecht. Valerie gab ein merkwürdiges leises Jaulen von sich, wie ein –
    – Ah, da bist du ja, sagte Walter.
    Er hatte Valeries kleinen, roten Hund entdeckt, der, gut getarnt an einer schattigen Stelle, unter ihrem Schreibtisch saß und den Kopf mit dem feinen, grüblerischen Gesicht auf die Vorderpfoten gestützt hatte. Der Denker. Er begleitete sie manchmal in die Praxis. Der Hund war selbst so eine Art Patient, hatte sie Walter einmal erzählt. Plötzliche Panikattacken, die sich niemand erklären konnte. Armes Vieh.
    Walter streckte seine Hand unter den Schreibtisch, aber der Hund lag zu weit weg. Er beobachtete die sich nähernde Hand, die auf halbem Weg schlapp machte, als wollte er sagen:
Wird das heute noch was? Nein? Auch gut
. Und er legte den Kopf zurück auf die Pfoten.
    Valerie ließ ihr Handgelenk, das genau spürte, was Walter dachte, langsam rotieren, bis es befreiend knackte.
Schau mich an, ich bin so was von beweglich
, sagte das Gelenk,
alles in mir ist fließend
.
    Hinter ihnen ging die Tür auf und die Sprechstundenhilfe erschien, holte Luft, weil sie etwas ungeheuer Dringendes verkünden musste, aber schon wurde sie sanft zur Seite gedrängt. Walter blickte in ein bekanntes Gesicht, das sich vor Überraschung verfinsterte. Valerie fuhr sich einmal mit der Hand durchs Haar, räusperte sich und sagte laut:
    – Aber! Gabi, was … was haben Sie denn da?
    Walter spürte etwas auf seinem Knie unter dem Schreibtisch. Bestimmt Valeries Fuß, der eine verschlüsselte Warnung überbringen wollte. Walter sah, dass ihr Gesicht alle morgendliche Entspannung verloren hatte. Eine labile Patientin, die mit einem dicken Packen Papier ins Büro geschwankt kam, bedeutete nichts Gutes. Die Sprechstundenhilfe zog sich ohne ein Wort zurück.
    – Ich hab alles … alles, sagte Gabi und deutete wirr auf ihre Papiere.
    Sie war außer Atem und musste sich setzen. Obwohl es draußen nicht kalt war, steckte ihr Hals in einem dicken Schal, der

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