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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Metallstab. Nein, so etwas gab es hier nicht. Oder? Eine Nadel war zumindest ein
kleiner
Metallstab.
    Als ihr Mann aufstand, fand er Gabi über ihr Nähkästchen gebeugt. Er sagte etwas und sie grüßte freundlich zurück. Er wunderte sich über ihre gute Laune und fragte, ob eine nennenswerte Besserung eingetreten sei. Gabi ging nicht näher darauf ein. Wolfgang wiederholte seine Frage, aber er bemerkte, dass Gabi schwitzte. Auch ihre Schminke war ein wenig verschmiert, als hätte sie geweint. Er ergriff ihren Ellbogen und sprach auf sie ein, aber sie entwand sich ihm und deutete nur an, dass sie eine starke Frau sei, viel stärker und zäher, als er bisher in seiner grenzenlosen Ignoranz angenommen hatte. Metallhart.
    Und damit musste Wolfgang sich zufriedengeben, denn mehr bekam er den ganzen Tag nicht aus ihr heraus. Er überlegte, ob er die Therapeutin mit dem hübschen Nachnamen anrufen sollte, aber als er sah, wie Gabi fröhlich mit dem Baby spielte und es aus der Wiege hob und herumwirbelte (seit vielen Wochen das erste Mal!), setzte er sich, als sei ihm plötzlich schwindlig geworden, in einen Lehnstuhl und musste dagegen ankämpfen, unartikulierte Tierlaute der Dankbarkeit von sich zu geben. Konnte essein, dass das schreckliche Leiden seiner Frau wirklich vorbei war? Schwieg sie deshalb, weil sie fürchtete, durch das Sprechen über ihre Fortschritte alles wieder zunichte zu machen? Wolfgang dachte an seinen Onkel Philipp, den Halbbruder seiner Mutter, der zeit seines Lebens an Migräne gelitten hatte und bei dem manchmal schon eine einzige intensive Erinnerung daran Kopfschmerzen oder die mysteriösen Begleitsymptome (ein metallischer Geschmack im Mund, linksseitige Taubheit der Gliedmaßen, Flimmerlichter in der Peripherie) wecken konnte.
    Nein, er verstand. Lieber nichts verschreien. Auf Holz klopfen. Sein Knöchel rieb kurz über die Lehne des Sessels.
    Am Abend beugte sie sich über das Gitterbett und ließ ihre leicht zitternde Hand eine feine, silberne Nadel neben das schlafende Kind mit diesen sonderbar gebogenen Beinen fallen, die sie an Kneifzangen erinnerten. Über Nacht würde sie sie dort liegen lassen. Denn wenn es eine Gerechtigkeit gab auf Erden, würde sie am nächsten Morgen immer noch dort liegen, das Kind unversehrt und unwissend – und alles wäre wahr, was man ihr über die Bedeutung der Frequenzen gesagt hatte und über den Zusammenhang von Zufall und Ordnung in der Welt; und auch das Kompliment von Walter, für dessen Nachnamen sie ein Vermögen bezahlt hätte, wäre ehrlich gewesen, nicht nur eine Art sozialer Körperfunktion, wie Händeschütteln oder Grinsen, sondern eine helle, strahlende, aufrichtige, ernstzunehmende Aufforderung zum Tanz durch Gott den Allmächtigen und bestimmt würde er auch das was er zu ihr vor der Kirche gesagt hatte zurücknehmen obwohl man das verstehen konnte denn es war schließlich heiliger Boden und alles und bestimmt hatte er das nichtso gemeint sie merkte wie sie wieder zitterte ihre Hand zitterte hatte sie die Nadel schon losgelassen ja das hatte sie ja allerdings.
    Als Gabi am nächsten Morgen, ein paar Minuten nachdem Wolfgang zur Arbeit gegangen war, die Nadel neben dem friedlich schlafenden Kind fand (nur dass sie in der Nacht auf unerklärliche Weise auf die andere Seite des Bettes gereist war), stürzte sie unter heftigen Konvulsionen ins Badezimmer und riss sich die Kleider vom Leib. Sie setzte sich in die kalte, leere Wanne, die sich auf ihrer brennenden Haut wie scharfkantiges Glas anfühlte, und gab einen gewaltigen Strahl von sich, eine Mischung aus Urin und der rätselhaften Flüssigkeit ihrer sexuellen Höhepunkte. Sie legte sich die Hand auf den Mund, um nicht unkontrolliert zu schreien. Sie gab halberstickte, seltsam singende Tierlaute von sich.

    Walter stand in einer Warteschlange. Er starrte auf einen roten Luftballon, der vor ihm in der Luft schwebte, als wäre es der Hinterkopf eines Mannes. Ein Königreich für eine Nadel. Das kleine Mädchen, das die Schnur des Ballons hielt, wippte auf ihren Fußballen. Die Zeit bewegte sich nur äußerst langsam, wie eine Hand, die im Gras nach einer Kontaktlinse tastet. Walter tippte den Ballon an und das Mädchen sah zu ihm auf. Er lächelte. Hinter ihm stand ein Mann, der hemmungslos schluchzte, die ganze Zeit schon, ohne Unterbrechung. Er weinte in ein großes Taschentuch, schnäuzte sich laut und unappetitlich, und murmelte immer wieder leise ein Wort, das Walter nicht verstand.
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