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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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eine kleine Frau unter Menschen, die sie um mindestens einen Kopf überragten.
    Nach einer Weile sah ich sie nicht mehr. Ich schaute den hypnotisierenden Bewegungen zu. Die Blitze verwandelten die Tanzenden in Bewegungsstudien von Muybridge: Viele ließen eine ihrer Hände vor dem Gesicht auf und ab wandern und folgten diesem interessanten Objekt, das sich in schnellen Momentaufnahmen voranbewegte wie die Protagonisten in einem Daumenkino. Ein Springball. Ein Mann, der einen Revolver zieht. Eine Bombe, die explodiert, zu Rauch wird und sich schließlich in Nichts auflöst. Ein Strichmännchen, eine einzige von links nach rechts laufende Linie, geht im Pyjama durch die Welt, ohne erkennbaren Gesichtsausdruck.
    –
Let’s hear it for DJ Q!
, wurde über einen Lautsprecher verkündet.
    Ich fuhr heftig zusammen, als mich jemand an den Schultern packte. Lydias Gesicht tauchte neben mir auf, grinste, erwischt, hab ich dich, hast geglaubt, ich wäre –
    – Lass das, sagte ich.
    Sie sah, dass sich meine Lippen bewegten, und bedeutete mir, dass sie nichts hören könne.
    Ihr T-Shirt hatte in den Achseln Schweißflecken bekommen, außerdem hinkte sie stärker.
    – Mir gefällt es hier, ehrlich gesagt, nicht besonders, sagte ich.
    Ich sprach, indem ich meine Lippen möglichst wenig bewegte. Nur in meinem Rachen spürte ich, wie sich der Schall der Worte bildete.
    Lydia sah gerade woanders hin und bemerkte nichts. Sie war durstig geworden und saugte an ihrem Getränk. Der perfekte Augenblick, um zu üben.
    – Ich habe jemanden kennen gelernt, wie du weißt, sagte ich gerade so laut, um die Worte in meinem Schädel vibrieren zu lassen. Ich hab eine Frau kennen gelernt, sie heißt Valerie, sie …
    Sie riecht einfach umwerfend, weißt du. Wir alle haben verschiedene Gerüche, und sie sind das Intimste, was wir besitzen.
    – Sie riecht wirklich umwerfend. Jedes Mal, wenn ich ihre Schultern sehe, denn sie trägt meist etwas, in dem ihre Schultern nackt sind, also jedes Mal, wenn ich diese Schultern sehe, die immer ein wenig … wie soll ich sagen … glänzen, also ein kleiner Lichtschein ist da immer, auf dieser Rundung, wie … wie auf einem Porzellankrug oder einem polierten Apfel, dieser Widerschein von Licht, das durch ein Fenster fällt … ja … und morgen Abend gehe ich mit ihr in die Oper …
    Lydia schaute mich plötzlich an. Ich erstarrte. Dann lächelte sie, immer noch über meine Faulheit, weil ich nicht mit ihr auf die Tanzfläche gegangen war. Ihre Lippen saugten an dem Strohhalm.
    Sie gestikulierte etwas wie
Gehen wir?
    Ich stimmte zu.
    Sie nahm meine Hand und führte mich durch den Tumult, der schlimmer zu werden schien. Inzwischen hatte sich die Blitzfrequenz erhöht und machte mich, wenn ich die Augen schloss, schwindlig und benommen. Sie war wohl nahe bei 10 oder 11 Hz, der Frequenz der Alphawellen im Gehirn. Die Tanzenden, die sich mit geschlossenen Augen bewegen (so wie der Jugendliche, der sich einen Lufttunnel in ein besseres Leben schaufelte), fallen dann in Trance, sehen Farbexplosionen und religiöse Ur-Symbole: Kreuze, Kreise, Spiralen, Sterne.
    Während ich hinter Lydia herging, sprach ich weiter. Es gab noch etwas Wichtiges zu sagen:
    – Ich glaube, dass sie mich auch interessant findet, obwohl sie … also, sie ist viel älter als ich … oder du … mindestens zehn oder fünfzehn Jahre. Mindestens.
    Lydia verlor kurz meine Hand, fand sie aber gleich wieder und zog ein wenig stärker. Schon waren wir beim Ausgang.
    Kühle Nachtluft auf schweißnassen Körpern.
    Lydia gähnte, um ihre Ohren zu öffnen. Wir sprachen nichts, während wir zu ihrem Auto gingen. Erst auf den letzten Metern, kurz bevor wir stehen blieben und uns voneinander abwandten, um einzusteigen, hängte sich Lydia noch bei mir ein. Dann ließ sie mich los, gähnte ein zweites Mal und steckte mich damit an.
    Als ich mein Gähnen zu unterdrücken versuchte, traten mir Tränen in die Augen, und der Blick auf die Straße und die nächtlichen Häuser verwischte sich.
    – Lydia, ich muss mit dir reden, sagte ich.
    – Sicher kannst du bei mir schlafen, sagte sie. Ist schon spät.
    Sie stellte das Radio so laut, dass mir schwindlig wurde.Die Fliehkraft der Kurven zog an meinem müden Körper, als hinge ich an vielen winzigen Angelhaken.
    – Ich hab da was Witziges gelesen, sagte Lydia, als wir bei ihr zuhause im Garten saßen. Über eine Frau ohne Arme und Beine, die Mutter von fünf Kindern geworden ist, weil sie sich in einem

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