Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
voller Vorfreude wie ein Fisch vor dem schwebenden Köder und schlage die Zeit mit unsinnigen Aktionen tot. Auf dem Weg in die Arbeit habe ich im Bus einem Kind, das zur Schule fuhr, erzählt, ich sei sein Ich aus der Zukunft. In fünfzig Jahren, habe ich gesagt, machen die Menschen nicht mehr Urlaub in irgendwelchen fernen Gebieten oder Städten, sondern reisen nur noch in der Zeit. Der Name des Kindes war auf seiner Schultasche zu lesen. Deswegen. Der Junge, der nicht im mindesten erstaunt war und mich vermutlich für einen vollkommenen Idioten hielt, hat mich gefragt, wie alt ich denn jetzt sei. Sechzig, habe ich geantwortet, aber für mein Alter sehe ich noch gut aus, oder? Ja, in der Zukunft sei das ganz leicht. Er hat nur genickt und sich wieder seinen Schuhspitzen gewidmet, die er konzentriert anstarrte.
    Okay, das war gelogen, aber ich habe mit dem Gedanken gespielt. Welches Kind trägt heutzutage noch ein Namensschild auf der Schultasche?
    Wenig später, als ich in die Straße einbiege, wo das Heim liegt (nur noch wenige Tage!), überlege ich, etwas Ähnliches mit einem der Alten zu versuchen, aber mir will keine Konstellation von altem und neuem Ich einfallen, die einigermaßen auf ihre Situation anwendbar wäre. Nein, der Trick funktioniert nur bei Menschen, die keine lange Vergangenheit haben.
    Eine rötlich gefleckte Katze hockt auf der Mauer neben dem Fahrradständer. Warum ich heute nicht mit dem Rad gekommen sei, fragt sie. Dann gähnt sie, wodurch sich ihr Kopf in ein offenes Maul verwandelt, und schütteltsich, dass ihre Ohren wie Taubenflügel gegeneinander flappen.
    AKTION. Tauschen Sie Ihr altes Handy JETZT gegen ein neues ein
. Die Leute im Altersheim bekommen die alten Modelle. Sie sind zwar gratis, aber dafür funktionieren sie kaum mehr. Manche Geräte erleiden durch die Trennung von ihren früheren Besitzern einen Schlaganfall, und Teile des Displays sind jetzt schwarz und gefühllos. Anderen fallen die Tasten aus wie kaputte Zähne. Antennen sind abgebrochen oder geknickt. Klingeltöne eiern wie das Gedudel alter elektronischer Geburtstagsbillets.
    Da ich nicht mehr lange hier sein werde, mache ich keine schwierigen Arbeiten mehr. Man meckert mit mir deshalb, das heißt, Max meckert, aber das ist mir egal. Er hat mir nichts mehr zu sagen.
    – Warum sitzt du noch immer hier rum?, fragt er.
    Wasch dies, putz das. Los
. Ich nicke freundlich, dann gehe ich wieder in meine Ecke und erkläre Frau Lorca, wie man Namen in ihr neues Telefon einspeichert. Sie tippt den Namen ihres Sohnes nun schon zum sechsten Mal, er heißt Markus, aber es kommt immer nur
Markupq
heraus. Sie ist verzweifelt, ihre Finger sind zu langsam. Zur Ablenkung erzählt sie mir, wie sie einst auf diesen Namen gekommen ist. Eine lange Auseinandersetzung mit ihrem Mann, der sich eigentlich Herfried gewünscht habe und jetzt schon siebzehn Jahre unter der Erde sei. Kettenraucher. Siebzehn Jahre. Während sie spricht, schaut sie zur Decke, wo absolut nichts zu sehen ist.
    – Schauen Sie doch mal her, sage ich. Hier bin ich.
    Ich winke. Frau Lorca sieht mich an.
    – Ich sehe Sie, sagt sie mit höchster Klarheit in ihrer Stimme.
    – Okay. Hier, nehmen Sie es mal in die Hand. Ich sag Ihnen dann, welche Knöpfe Sie drücken müssen, damit die Kurzwahl-Funktion –
    – Ich bin doch nicht blind, sagt sie und starrt mich wütend an.
    – Okay, das hab ich ja auch gar nicht behauptet, nur –
    – Ich seh schon!
    Sie nimmt mir das Telefon aus der Hand und hält es fest, als müsste sie es vor mir beschützen.
    – Wenn Sie den Menü-Knopf einmal –
    Aber sie dreht sich weg. Sie steckt das Handy in ihre schlaffe Brusttasche. Für einen Augenblick habe ich Lust, es von dort einfach wieder hervorzuholen und sie anzufahren:
Ich wiederhol’s nicht noch einmal, also hören Sie mir verdammt noch mal zu, wenn Sie wollen, dass Ihr Sohn Sie wenigstens hin und wieder mal anruft!
    Dann sehe ich, dass ihre Mundwinkel sich verselbständigt haben und unverständliche Signale an die Außenwelt senden: Entrüstung, Entwürdigung und tiefen Abscheu. Ich stehe auf.
    – Ich komm dann später wieder, Frau Lorca.
    Sie reagiert nicht. Mit dem Ärmel ihrer Weste wischt sie sich über die Augen.
    – Ich bin nicht blind, sagt sie. Ich sehe Sie schon.
    – Okay.
    – Ich sehe schon, was Sie da …
    Den Rest verstehe ich nicht mehr, feindseliges Gemurmel. Ich flüchte in den Aufenthaltsraum, wo ein ständig vor und zurück wippender Mann, der eigentlich ins

Weitere Kostenlose Bücher