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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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etwas leiser und
nur
zur Schwester, die ihn freundlich annickt.
    – Ich versteh schon, Herr Sedlatschek, sagt sie.
    – Ich war doch nicht bewusstlos, sage ich, ich bin nur gestolpert.
    – Ja, Herr Sedlatschek, sehen Sie, ist gar nichts passiert, sagt die Schwester.
    – Aber … er kann sich vielleicht nicht erin-
    – Vielleicht war es ja der Stuhl, den Sie gesehen haben, schneidet sie ihm das Wort ab. Die Stühle da hinten sind umgekippt. Schauen Sie.
    Herr Sedlatschek schüttelt den Kopf. Dann besinnt er sich und schaut tatsächlich auf die Stühle, die umgekippt auf dem Boden liegen. Vielleicht …? Er hat verloren. Man nimmt ihn nicht ernst. Er kennt das. Alle kennen das. Und wissen, dass man dann nur mehr durch Gesten auf sich aufmerksam machen kann, oder durch völlige Apathie. Es ist wie eine ständig vorweggenommene Maulsperre. Worte sind völlig nutzlos, man kann mit ihnen nichts mehr anstellen, also hält man sie zurück.
    Ich lächle die Schwester an. Wie ist sie eigentlich auf den Stuhl gekommen? Für einen Augenblick habe ich den Eindruck, dass sie mein geheimes Spiel vielleicht mitspielt. Dieser Gedanke geistert mir bis Dienstschluss durch den Kopf.
    Als ich später am Aufenthaltsraum vorbeikomme, sehe ich dort Herrn Sedlatschek mit zwei anderen Bewohnern stehen, einer halbblinden Frau und einem kahlen Greis, der in Symbiose mit einem sprechenden Rollstuhl lebt. Herr Sedlatschek deutet auf die beiden Stühle und dann auf den Boden. Sein alter Mund bewegt sich und bildet Sätze. Die anderen hören ihm interessiert zu.
    Das war gratis
, denke ich, wie Jim Carrey in
Truman Show
, während er mit Seife einen Astronautenhelm um sein Spiegelbild zeichnet.
Extra für dich, du alte Jammertante. Davon kannst du die nächsten Monate zehren, wenn ich schon längst in Freiheit bin und dein Gesicht vergessen habe
.
    Wie habe ich Valerie kennen gelernt?
    Es gibt eine Reihe von
befreundeten
Therapeuten, die außerhalb des Heims praktizieren. Manche kommen zu uns, andere müssen besucht werden. So wie Valerie. Sie leitet ein
Institut für Lebensführung
. Ihre Spezialgebietesind Stressbewältigung und Übergewicht. Eine Menge fette, frustrierte alte Frauen gehen zu ihr, und wenn es Klientinnen von uns sind, brauchen sie einen Begleiter. Mich.
    Der schönste Gegenstand im Heim ist der kleine Begleiterplan, der auf der fantasielosen Pinnwand neben dem Speisesaal hängt. Ich verbringe viele Stunden davor. Sooft es geht, schreibe ich meinen Namen in die herrlich winzigen Kästchen (zu klein für zwei Namen).
    Nur äußerst selten werde ich dabei gestört.
    – Ah, Kerfuchs, da versteckst du dich!
    – KERfuchs! Man spricht es –
    – Ja ja, schon gut. Deinen Namen kann ohnehin niemand richtig aussprechen.
    Max hat sich angeschlichen. Er muss beobachtet haben, dass ich mich wieder in den Begleitdienst eingetragen habe. In alle noch freien Kästchen. Valerie, Valerie, Valerie.
    Er seufzt, lehnt den langen, schwarzen Metallstab, von dem früher einmal efeugemusterte Vorhänge hingen und der jetzt nur mehr als Werkzeug dient, etwa zum Verschieben der zentnerschweren Blumentöpfe, die in jedem Gang stehen, an die Wand. Der Metallstab fällt sofort um.
    – Keeerfuchs, sagt Max, mir ist aufgefallen, dass du dich in letzter Zeit richtig um die Begleitdienste reißt.
    – Ja?
    – Eine ruhige Kugel schieben, jetzt, wo du gehst … ist doch so, oder?
    Max ist etwa dreißig, trägt eine Glatze, spricht gern in Ellipsen und hat die Manieren eines nihilistischen Militärarztes. Er stiehlt gerne Aschenbecher aus Restaurants und baut aus ihnen babylonische Türme aus dunklemGlas. Er wettet auf den Ausgang von Nahost-Friedensverhandlungen wie andere auf Sportergebnisse. Beim Gehen rempelt er alles an, was ihm in den Weg kommt, sogar parkende Autos. Kinder und Tiere meiden ihn. Außerdem ist er dafür bekannt, dass er in seinen Nachtdiensten Angst und Schrecken verbreitet, er lässt alte Menschen stundenlang um Hilfe klingeln, und wenn er sie endlich erhört, macht er gehässige Bemerkungen über den Gestank ihrer vollgepinkelten Bettdecken, so lange, bis sie irgendwann nicht mehr klingeln und einfach nur still daliegen in ihrem Elend. Max hat schon zwei Disziplinaranhörungen hinter sich, in denen er sich allerdings erfolgreich gegen alle Beschwerden behaupten konnte. Alle haben vor ihm Angst, die Kollegen, die Heimleitung, die Angehörigen der alten Menschen. Aber in letzter Zeit scheint er sich ein wenig gebessert zu haben. Man

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