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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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munkelt, er habe eine Freundin.
    Er bleibt hinter mir stehen, während ich mein Kürzel, die dunkelgoldene Silbe
Ker
, in den Dienstplan schreibe. Als ich fertig bin, weicht er mir umständlich aus und fragt, ob er sich meinen Bleistift ausborgen dürfe.
    – Da schau her, murmelt er, als sein Gesicht ganz nah vor dem Stück Papier schwebt. Gleich alle Dienste. Du hast dich für fast
alle
Dienste eingetragen, hast du gesehen? Geht das denn überhaupt?
    – Weiß nicht, sage ich. Natürlich wird das gehen.
    Valerie. Valerie, Valerie!
    Er kratzt sich die Glatze, in Gedanken versunken über einem imaginären Schachproblem brütend. Seine traurigen Augen hellen sich auf und er beginnt zu lächeln.
    – He, weißt du was, ich schreib meinen Namen einfach daneben, dann können wir entscheiden, wer von uns –
    – Wie bitte?
    – Schau, ist doch genug Platz.
    – Ich weiß nicht … Ich glaube nicht, dass …
    Die Spitze des Bleistifts hockt sich in das Kästchen, in dem mein Name steht. Gleich wird sie explodieren. Da beginnt (eine Überraschung!) sein Handy zu klingeln, das er in einem sehr männlichen Pistolenhalfter am Gürtel trägt, und er holt es schnell hervor, um mit ihm zu spielen, damit es sich wieder beruhigt und zu quengeln aufhört. Er hält es sich an die Wange.
Ja, ganz ruhig, ist ja gut
.
    – Hm. Aufgelegt, sagt er.
Unbekannte Nummer
. Idioten.
    Nur noch wenig hält mich in diesem gigantischen Sterbestockbett. Ich muss noch meine Schlüssel in der Verwaltung abgeben und darf ja nicht vergessen, die Kaution zurückzuverlangen. Ich muss versuchen, meine Überstunden irgendwie zu Geld zu machen. Und ich muss mich noch von Martina verabschieden, der einzigen fest angestellten Pflegeschwester unter vierzig. Was natürlich nichts heißt, auch Valerie ist über vierzig. Aber Martina ist außerdem die einzige weibliche Person in dem ganzen Betrieb, die ich bei Gelegenheit näher kennen gelernt habe.
    Es war im letzten Winter in einer anstrengenden Woche mit zwei Selbstmorden gewesen. Glücklicherweise waren sie in anderen Abteilungen oder
Flügeln
geschehen. Ein Mann hatte sich vom Wintergarten im vierten Stock in den Hof gestürzt, und eine Frau hatte eine Steckdose in ihrem Zimmer so lange hoffnungsvoll mit einer Gabel bearbeitet, bis sie ein Hexenschuss zu Fall brachte. Dabei hatte sie sich ein etwa münzgroßes Loch in die Schläfe geschlagen, an einer eilig vom Schicksal herbeigerückten Tischkante. Still war sie in ihrem Zimmer verblutet, neben ihr die Gabel mit den verbogenen Zinken.
    Martina Solveig Zimmermann, ein Name wie ein Pfauenrad, prächtig und bunt. Er verlieh ihrem rätselhaften Wesen die letzte Glasur. Wenn sie sich unter Menschen bewegte, auch unter solchen, die nicht hundert Jahre alt waren und nur noch aufs Sterben warteten, hatte man das Gefühl, jeder wäre unvollkommen und fehl am Platz, so wie sich ein Riese fühlen muss unter Menschen, die mühevoll auf Stelzen gehen. Und sie besaß die hinreißende Angewohnheit, den obersten Knopf ihrer weißen Bluse ständig auf- und wieder zuzumachen, nach einem unbekannten Rhythmus. Wenn sie lächelte, bildeten sich um ihre Mundwinkel breite und freche Anführungszeichen, und auch um die Augen erschienen winzige Fältchen, die nichts mit den Falten alter Frauen zu tun hatten.
    Ich hatte Lydia von ihr erzählt. Sie hatte nichts dagegen, aber sie fragte mich am Telefon, wie lange es wohl dauern würde.
    Wir trafen uns sehr früh am Morgen in dem winzigen Betreuerzimmer, drei Stunden bevor Martina abgelöst werden würde. Aus dem gleißend kalten Wintertag trat ich hinein in den vorgewärmten Raum mit dem summenden Webserver, der wie ein heiliges Tempelfeuer niemals ausgemacht werden durfte, der kleinen Schlafnische und dem asketischen Holztisch, aus dem eine Leselampe in Form einer gekrümmten Raupe wuchs. Schnell streiften wir die beiden Selbstmorde ab, wir verdrängten die albernen Warnungen unseres Geruchssinnes (mehrere Bewohner hatten nach einem Fischgericht Durchfall bekommen, und jetzt hing ein Gestank in der Station, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Geruch von verbranntem Brot besaß), dann gingen wir zu den Kleidern über, alles musste weg, nichts Überflüssiges durfte bleiben. Ich ließmir das Vergnügen nicht nehmen, lange und ausgiebig an Martinas Blusenknöpfen herumzuspielen.
    Draußen in der Kälte schrieen Krähen, die im Stimmbruch waren.
    Ich genoss den Gedanken an das vollständige Fehlen von dunklen Geheimnissen und

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