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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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verbreitete.
    –
Kein Benehmen, kein Benehmen
.
    Walter wartete, ob noch etwas kam. Okay. Nein. Doch.
    –
Erbrechen reinigt
, plapperte Lengel unterdessen weiter.
So wie Weinen. Und das Ablassen von entzündeter Körperflüssigkeit durch einen kleinen Schnitt in die Armbeuge. Alles dasselbe
.
    Walter atmete durch den Mund. Das war’s, dachte er. War’s das? Ja. Es kam nichts mehr. Ein langer Speichelfaden seilte sich von seiner Unterlippe ab, er wischte ihn weg. Er drehte sich um und betrachtete das Chaos, das er angerichtet hatte. Alles war ruiniert, die schöne Couch, der Teppich, seine Hose. Der alberne Zwergentisch würde es überleben, er hatte nicht allzu viel abbekommen. Walter nahm eine Rolle Küchenpapier und machte sich an die Arbeit, obwohl ihm immer noch schwindlig war. Im Bad fand er einen Putzlappen, der in einer sonderbaren Formerstarrt war und auf die erlösende Berührung mit Wasser wartete. Walter wischte über den Stoffbezug der Couch, aber er hatte vergessen, den Putzlappen auszuwringen. Er versuchte aufzustehen, verlor das Gleichgewicht und musste sich mit dem Knie auf dem Sofa abstützen.
    – Scheiße! Scheiße! Scheiße!
    Sein linkes Hosenbein triefte.
    Er legte den Putzfetzen weg. Jeremias Lengel gähnte unterdessen laut. Er sperrte dabei sein Maul derart weit auf, dass es so aussah, als wollte er seine eigene Hand fressen.
    – Scheißkomponist, fluchte Walter. Alles dieselben … Colin …
    – Wer?
    – Niemand. Ein Freund, sagte Walter trotzig.
    –
Maskulin. Mehrzahl auf -e
, erwiderte Jeremias Lengel.
    Er knisterte mit dem Notenpapier, das auf seinem Schoß lag. Er hob es sich vor die Nase, runzelte die Stirn, als würde er lesen, aber anscheinend konnte er darauf nichts Sinnvolles erkennen und legte den Zettel wieder weg. Er rülpste leise.
    –
Keine gute Luft hier
, sagte er.
    – Die ganze Couch, jammerte Walter vor sich hin, die ganze verdammte, beschissene Couch.
    Auch das Küchenpapier verwischte alles nur noch mehr und verteilte die Kotze, anstatt sie wegzuzaubern oder – egal was, Hauptsache, dieser Albtraum hörte endlich auf. Herrgott, es war so erbärmlich!
    – Verdammte, verfluchte, verfickte Couch. Jetzt werd endlich sauber!
    Er wischte und wischte. Der Gestank brachte ihn fast um.
    –
Durch Erbrechen wird in der Regel alles nur noch schlimmer
, dozierte der Orgelbaumeister.
    – Durch Reden auch, murmelte Walter.
    –
Das ist im Grunde dasselbe. Verhält sich zueinander wie Dur und Moll
.
    Der Orgelbaumeister gab ein papageienhaftes Gekicher von sich. Dann blieb ihm plötzlich die Luft weg, und er musste sich auf die Leinwandbrust klopfen, damit er wieder atmen konnte. Er wollte sich noch einmal mit der Hand durchs Haar fahren, aber auch jetzt blieb die Hand mitten in der Bewegung stehen und sank enttäuscht herab. Es war klar, dass er seine frühere Haarpracht sehr vermisste.
    –
Du hast nicht die geringste Ahnung von Kontrapunktik, oder?
, fragte er mit boshaftem Mitleid.
    – Schnauze, sagte Walter.
    –
Warum wischst du ständig über dieselbe Stelle auf der Couch, wenn da unten auf dem Teppich die größte Sauerei wartet?
    Walter erhob sich. Er tat so, als wiege er den vollgesogenen, stinkenden Schwamm in seiner Hand, ja, der war ziemlich schwer und sah auch sehr interessant aus, ziemlich interessant – dann drehte er sich blitzschnell um und warf ihn auf das Porträt. Der nasse Schwamm zog einen Kometenschweif aus Wassertropfen hinter sich her. Er klatschte ungefähr einen Meter neben dem Bild an die Wand.
    Meister Lengel bog sich vor Lachen, und die Adern auf seiner Stirn traten genüsslich hervor. Das Notenblatt war zwischen seinen Knien durchgerutscht.
    – Jetzt ist aber genug, sagte Walter und ging mit schnellen Schritten um die Couch herum.
    Er wollte das Bild, so wertvoll es sein mochte, von der Wand reißen. Er ertrug diesen lächerlichen, anklagenden Blick nicht mehr. Aber als er beim Bild angekommen war,war der Orgelbaumeister in seinen früheren Zustand zurückgekehrt. Sein Gesicht war wieder die alte, fragende Maske vergangener Epochen, und die gottesfürchtige Lichtreflexion auf seiner Glatze war unbeweglich wie ein Mondkrater. In seiner Hand hielt er das Notenpapier mit der unlesbaren Pseudomelodie. Der unbekannte Porträtmaler war mit Sicherheit ein musikalischer Analphabet gewesen. Das geschah dem alten Kerl ganz recht, dachte Walter.
    Er betrachtete die Sauerei, die er angerichtet hatte. Das Bild war nicht schuld, er hatte sich alles selbst

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