Die Frequenzen
sagte Werner.
Sein Schnurrbart schien sich über die Geschichte zu freuen, er zitterte ein wenig. Max schmunzelte immer noch. Er tippte seine Zigarette an, aber die Asche blieb, wo sie war.
– Warte, sagte ich, die Geschichte geht ja noch weiter. In einer bestimmten Nacht, irgendwann in der Mitte, beschließtScheherazade, den grausamen und unberechenbaren König, der so an ihren Lippen hängt, ein wenig zu quälen. Denn sie ist schließlich eine Frau und Frauen sind von Natur aus grausam.
– Ts!, machte Otto.
Er schnippte seine Zigarette auf den Boden.
– Sie beginnt also wie jeden Abend ihre Geschichte, nachdem sie die alte vom Abend zuvor beendet hat, und erzählt dem König ungefähr Folgendes:
Es gab einmal einen König, der hatte beschlossen, alle Frauen seines Landes zu sich einzuladen, sie zu vögeln und anschließend zu köpfen
und so weiter. Das Gesicht des Königs verändert sich, er wird ganz bleich und seine Lippen zittern. Scheherazade erzählt ihm seine eigene Geschichte, bis zu dem Augenblick, da sie in sein Leben tritt. Sie beschreibt auch sich selbst, wie sie neben ihm Platz nimmt, erzählt ihm von der List, mit der sie gedenkt, ihr Leben zu retten, und erzählt ihm auch, wie sie die erste Geschichte zu erzählen beginnt, und alles wiederholt sich, Wort für Wort. Der König erstarrt. Er begreift, dass er in einem Zeitloch gefangen ist, in einer jener endlosen Spiegelungen, in der man einen Bildschirm sieht, auf dem ein Bildschirm zu sehen ist, der wiederum diesen Bildschirm zeigt, und ewig so weiter. Geniale Idee, oder?
– Ja, sagte Otto begriffsstutzig.
– Das war Grausamkeit Nummer eins, fuhr ich fort, denn natürlich dauert auch diese Nacht nur acht Stunden, Zeitschleife hin oder her, irgendwann wird es draußen hell und die Geschichte ist vorbei. Am nächsten Morgen geht das Leben im Palast weiter, und am Abend erzählt Scheherazade wieder Geschichten, vor allem religiöse Gleichnisse und Abenteuergeschichten, alles harmloses Zeug, denn sie hat ihren Spaß gehabt: Sie hat dem König gezeigt,dass man sich besser nicht mit einer Geschichtenerzählerin anlegt. Der König, eingeschüchtert, verschont ihr Leben auch weiterhin. Er hört sich alle ihre Geschichten an und freut sich daran und schläft hinterher mit ihr. Sie wird fast so etwas wie seine Lieblingsfrau. So gehen die tausend Nächte zu Ende, und in der letzten Nacht bittet Scheherazade, die von ihrer ständigen Todesangst bereits völlig ausgezehrt ist, den König, ihr Leben zu verschonen und sie als Mutter seiner drei Kinder – man muss sich das vorstellen: Sie ist sogar zu schwach, das kleinste der Kinder als Argument in die Höhe zu halten – im Palast zu behalten. Der König lächelt nur, auf diesen Augenblick hat er gewartet. Nie konnte er vergessen, was sie ihm in der einen, der sechshundertundzweiten Nacht, angetan hatte. Er lässt sie wissen, dass er gar nicht mehr vorhat, sie zu töten.
Ich
, sagt er,
habe dich längst verschont
. Scheherazade erbleicht nun ihrerseits, sie fällt auf einen Stuhl nieder und alles dreht sich. Er habe ihr Leben längst verschont, hat er gesagt. Sie hat also mindestens dreihundert Tage in falscher Todesangst Geschichte um Geschichte aufeinander gestapelt. Er hat sie nur weitererzählen lassen, weil ihm ihre Geschichten gefielen! Er hat sie im Glauben gelassen, sie könnte immer noch jeden Augenblick sterben, wenn die Erzählung nicht spannend genug ist oder sonst irgendeine Unstimmigkeit aufweist.
Das
ist grausam!
Ich stampfte mit dem Fuß auf. Es war eine alberne Geste und kostete mich einige Überwindung. Die drei Pfleger schauten mich erstaunt an.
– Wie bist
du
denn heute drauf?, fragte Max lachend.
– Also, sagte ich, ich geh dann jetzt.
– Wie, jetzt?
– Ja. Ich arbeite hier nicht mehr. Und bevor ich’s vergesse: Bring sie nicht um, ja? Das ist es doch nicht wert.
Max hörte auf zu schmunzeln.
– Was?
– Im Nachtdienst, sagte ich. Natürlich, ich weiß, das geht mich nichts an und es ist ja auch total witzig und alles … aber umbringen, mein Gott, das muss doch nicht sein, finde ich.
– Was redest du da für einen Scheiß? Wen soll ich denn umbringen?
– Eben niemanden, sagte ich. Ich finde, das gehört sich einfach nicht. Ich meine … Scheiße fressen lassen, okay, das ist witzig, aber jemanden im Nachtdienst einfach umbringen, bloß weil er … oder sie …
– Du bist nicht ganz bei dir, kann das sein?
Max’ Blick hatte endlich die Intensität erreicht,
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