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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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zuzuschreiben. Er musste hier weg. Sehr schnell.
    Er rannte, wie er war, nach oben in sein Zimmer, wechselte die Hose und zog sich den Mantel an. Gott sei Dank hatte er noch nicht alles aus dem Koffer gepackt; schnell räumte er die notwendigsten Dinge hinein. Den Metallstab ließ er da, so etwas konnte man in der Stadt kaufen. Der Koffer wehrte sich, er ging nicht mehr zu. Walter setzte sich auf ihn, drückte ihm ein Knie ins Genick, bis dieser endlich nachgab und zuschnappte.
    Wie viel Zeit blieb ihm, bis seine Familie zurückkam? Was würden sie denken, wenn er einfach so verschwand? Würden sie ihn suchen? Ihm nachfahren?
    Er öffnete ein Fenster, um zu sehen, wie kalt es draußen war. Konnte er in diesem Aufzug überhaupt auf die Straße? Er trug ein T-Shirt und darüber einen Mantel. So sah er aus wie ein weißer Rapper in einem Videoclip aus den achtziger Jahren. Fehlten nur noch die Hosenträger. Egal, es musste so gehen. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Was würden sie zu der Sauerei im Wohnzimmer sagen? Und zu dem Fleck an der Wand? Alles stank nach Erbrochenem, das ganze Haus.
    Im Hausflur zog er sich die Schuhe an, da meldetenseine Ohren ein Geräusch. In der Einfahrt knirschten Reifen. Mit nur einem Schuh – den zweiten hatte er sich in der Aufregung in seine Manteltasche gesteckt – humpelte er zur Terrassentür. Sie öffnete sich mit einem Seufzen, als hätte er sie aus einem süßen Traum geweckt. In seinem Rücken hörte Walter den großen Schlüsselbund seiner Mutter (ein falscher Fuchsschweif, den er jahrelang für echt gehalten hatte). Er wandte sich um und konnte gerade noch sehen, wie sich ein Streifen Sonnenlicht durch die Tür schob, der breiter und breiter wurde, und schon waren da bewegliche Gestalten –
    Er ging um die Ecke.
    Er duckte sich unter einem Fenster durch.
    Als er bei den Fasanen war, stand er vor einem neuen Problem: Er konnte nicht einfach an dem kleinen Gehege vorbeigehen, da er dann zu der Einfahrt gelangen würde (verdammte piranesische Architektur!), wo sein Vater seiner Schwester irgendetwas am Wagen erklärte. Glücklicherweise konnten sie ihn nicht sehen.
    Er wartete an der Hausecke und zählte seine Herzschläge. Was, wenn seine Mutter auf die Terrasse ging und ihn entdeckte!
    Die Stimmen kamen näher.
    Walter duckte sich und lugte noch einmal um die Ecke. Das war töricht, aber es musste sein, wenn er nicht plötzlich vor seiner Schwester stehen wollte:
Mama, Papa, ich hab ihn gefunden!
    Sie würden ihn kreuzigen für das, was er aus dem Wohnzimmer gemacht hatte. Er lauschte. Die Stimmen kamen doch nicht näher, sie waren nur lauter geworden. Jetzt sprachen sie wild durcheinander. Im Haus, wenn er sich nicht täuschte. Er riskierte einen kurzen Blick – ja, die Einfahrt war leer.
    Er rannte los.
    Aber da er nur einen Schuh trug, stolperte er schon nach wenigen Schritten und schlug mit dem Kinn auf den Boden. Die Fasane begannen zaghaft zu schreien, sie lachten über den betrunkenen Harlekin, der da über seine eigenen Füße gefallen war.
    Schnell raffte Walter sich auf und rannte davon. Sein Koffer schlug ihm gegen die Schenkel.
    Da er so überstürzt geflüchtet war, hatte er auch keinerlei Gedanken an Zugverbindungen verschwendet. Als er an dem kleinen Bahnhof ankam, stellte er fest, dass er fast vierzig Minuten auf den nächsten Zug in die Stadt warten musste.
    Jetzt saß er in der Falle. (Bestimmt lachten sich die Fasane halb tot über ihn.)
    Natürlich würden sie ihn suchen gehen. Mit dem Auto brauchten sie höchstens zehn Minuten zum Bahnhof. Wo sollte er schließlich sonst sein? Und die Abfahrtszeiten kannten sie bestimmt auswendig. Das heißt,
Mirja
kannte sie. Sie würde einen Zeigefinger in die Höhe halten und sagen: Er kann nirgends hin, wenn er nicht nach Klagenfurt will, denn der Zug nach Klagenfurt geht in genau siebzehn Minuten. Walter schüttelte den Kopf. Seine Schwester war, so lieb er sie hatte, ein wirklich merkwürdiger Mensch.
    In aller Eile besorgte er sich ein Zugticket und suchte sich dann ein Versteck. Das kleine Café gleich neben dem Bahnhof war zu offensichtlich, und in die öffentlichen Toiletten wollte er nicht.
    Er betrat das alte Kino.
    Von außen hätte man glauben können, dass es noch in Betrieb war, aber als die quietschende Tür hinter ihmzufiel, lag eine einzige große, friedliche Verwüstung vor ihm; als hätte eine äußerst sanftmütige Bombe eingeschlagen und alles in Zeitlupe herumgewirbelt. Ein kugelförmiger

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