Die Frequenzen
Kaugummiautomat war umgekippt, aber nicht geborsten. Und die Kassenkabine mit dem gotischen Guckloch im Glas und der aschenbecherartigen Drehscheibe für den Tausch von Geld und Ticket sah aus, als wäre sie gerade erst verlassen worden.
An den Wänden hingen überall Plakate von alten Filmstars. Gregory Peck. Hedy Lamarr. Jemand hatte das Bild der schönen Filmdiva mit einem Filzstift verziert: Auf ihren Schultern standen ein Teufelchen und ein Engelchen, die ihr von links und rechts ins Gewissen redeten. Walter versuchte über diese Zeichnung zu lachen, weil er das dringende Bedürfnis hatte, etwas komisch zu finden, aber es gelang ihm nicht. Sein Gelächter klang nackt und klein in dem riesigen Raum, wie Axtschläge in einer Polarnacht.
Er sah auf die Uhr. Noch mehr als eine halbe Stunde. Besser hier in dieser Ruine als –
Walter stand plötzlich vor einem Plakat, das er vorher nicht gesehen hatte. Ein Hundekopf in einem Astronautenhelm. Im Hintergrund stolz wehende Sowjetfahnen. Strammstehende Soldaten, salutierend vor einer strahlenden sozialistischen Zukunft. Hammer und Sichel begatteten sich im Himmel über ihnen, zwei wollüstige, geometrische Satelliten. Laika, die Astronautenhündin – der Name fiel ihm wieder ein. Er hatte sich vor langer Zeit mit Alexander Kerfuchs einen Film über das arme Tier angesehen; aus irgendeinem Grund hatten Alex solche Dinge immer fasziniert. Lange wurde geheim gehalten, dass die Hündin schon kurz nach dem Start der Rakete vor Angst und Stress gestorben war. Damit blieb ihr wenigstensder Blick aus der Luke erspart, auf den merkwürdigen Strandball, der da hinter dem Fensterglas schwebte und sich von ihr fortbewegte. Oder jener namenlose Hund, dem russische Wissenschaftler in den vierziger Jahren den Kopf absägten, durch eine Maschine aber weiter mit Blut versorgten. Der entsetzliche Schwarzweißfilm zeigt, wie der weiße Hundekopf gestreichelt wird (der Hund zwinkert mit den Augen und wedelt mit dem Schwanz, den es gar nicht mehr gibt), wie seine Lefzen mit einer Feder gekitzelt werden (er schnappt nach der Feder, erwartet, dass man sie gleich über seinen Kopf wirft, und er wird danach springen) und wie sein Maul mit Citrussäure beträufelt wird (er leckt, er macht eine bodenlose Schluckbewegung). Derselbe Film zeigt auch einen schwarzen Hund, der von einem konzentriert blickenden Mitarbeiter umgebracht wird und dann zehn Minuten tot auf dem Operationssaal liegt. Anschließend wird die Blutzirkulation künstlich wieder eingeleitet. Der Hund kehrt langsam wieder ins Leben zurück, zuckt mit den Pfoten, wedelt, reagiert auf Lichtreflexe. Zehn Tage vergehen und der Hund, der immer noch einen weißen Verband um den Hals trägt, kommt durch eine Tür und begrüßt einen der Wissenschaftler, leckt ihm die Hand und erzählt ihm mit seinen traurigen Augen zum fünfhundertsten Mal, wo er gewesen ist, an einem äußerst merkwürdigen Ort, der völlig geräuschlos war, eine einzige lange Mauer, an der man nicht hochspringen konnte, weil sie auf beängstigende Weise unendlich hoch war. Still stehende Fahnen waren da, im Hintergrund. Und ein plärrendes Grammophon, das Lieder aus längst vergangenen Tagen herunterleierte.
Ah, dieser Alex hatte ihm immer Angst gemacht. Walter fühlte sich etwas schwindlig. Er war, ohne es zumerken, weitergegangen, und seine Schuhe knirschten in einer Pfütze aus feinen Glassplittern. Eine Steckdose hing an ein paar Kabeln aus der Wand. Er berührte sie mit der Schuhspitze und sie pendelte. Jede Steckdose besitzt einen individuellen Gesichtsausdruck: knopfäugig, beleidigt, ein wenig so wie der Mann mit Skimaske aus den Horrorfilmen. Und im Hintergrund das Geklimper von Klaviermusik aus grauen Stummfilmtagen und ein paar zappelnde Figuren vor zweidimensionaler Kulisse. Eine Erinnerung, ein Geruch nach frischen Bettlaken, nach der Angst, sich nachts in einem fremden Bett anzumachen. Eine riesige Patrone schob sich ins Bild, eine Rakete mit einer Einstiegsluke, durch die sich Menschen zwängten, und dann endlich: die riesige, menschengesichtige Mondscheibe, deren linkes Auge von einer Raumkapsel durchbohrt wird.
– Ah!, sagte Walter laut.
Er stampfte mit beiden Beinen auf, Glasstaub knisterte.
Für Val von Al
. Von Alex? Alexander. Es war
sein
Plakat gewesen, an der Wand in Valeries Zimmer. Ohne Zweifel. Das Plakat, vor dem Walter damals Angst gehabt hatte, vor diesem unmenschlichen Blick der Mondscheibe.
Er
, Alex, war Valeries Freund oder
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