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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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entlang. Mit einem langen Stock betastete er sie, vermutlich um zu sehen, an welchen Stellen sie dünn wie Papier war, damit er nicht in diese unsichtbaren Löcher tappte, die es überall auf der Welt gab. Vielleicht suchte er auch nach unsichtbaren Wänden, die fast noch heimtückischer waren als die Löcher.
    Die Hündin wandte sich wieder dem Straßenrand zu. Eine Coladose, die sie vor einem in gelben Zuckungen entrückten Forsythienbusch fand, roch nach einem Kind, das vermutlich ebenfalls von Zuhause verbannt worden war. Die Hündin leckte die Überreste auf, die in einem schmalen Rinnsal aus der Dose geronnen waren, und stellte fest, dass es ein männliches Kind war. Das bedeutete an sich noch nichts, aber es wurde ihr ein wenig leichter ums Herz.
    Plötzlich erfasste sie wieder diese dunkle, galoppierende Panik. Sie floh mit eingezogenem Schwanz und verkrampftem Kiefer in eine lichtlose Hauseinfahrt und kauerte sich dort in eine Ecke. Der unsichtbare Angreifer in ihrem Nacken verschwand, löste sich langsam auf.
    Der Trichter, er war noch immer da. Wenn sie lief, wippte er. Die Falle, in der ihr Hals steckte. Das musste es gewesen sein, das merkwürdige Gefühl. Sie musste versuchen den Trichter loszuwerden. Er bedeutete nichts Gutes, er bedeutete, von Zuhause verbannt worden zu sein. Und jeder konnte es sehen.
    Eine dunkelhäutige Frau ging mit einem Kinderwagen leise singend an ihr vorbei und beachtete sie nicht.
    Vor lauter Nervosität biss sie sich ins eigene Fell. Sie kam nicht weit, weil der Trichter im Weg war. Sie versuchte durch Verrenkungen ihr Rückenfell zu erreichen, begnügte sich aber schließlich mit dem struppigen, widerstandsfähigen Fell an den Waden, die sie gerade eben noch erreichen konnte. Einmal biss sie aus Versehen zu heftig zu und jaulte kurz auf.
    Das alles passierte wirklich ihr.
    Die Nacht kam sehr schnell und es begann zu nieseln. Trotzdem blieb es einigermaßen warm. Uljana ging an erloschenen Schaufenstern vorbei, irgendwann waren da keine Gebäude mehr und ein grauer, großer Firmenparkplatz begann. In der Ferne sah man an Messingstangen schlotternde Fahnen. Eine davon dunkler als die anderen.
    Sie ging lange durch endlose Reihen von Autos. Sie kannte das. In ihnen konnte man stundenlang sitzen, auf einer nach Erdnüssen und Kindern riechenden, dunkelgrauen Steppdecke. Und ringsum wackelte alles und legte sich gefährlich auf die Seite, sodass man das Gefühl hatte, gleich müsse der ganze Kasten umfallen, mitsamt den Kindern. Ah, mit den Kindern, die irgendwann nicht mehr mitfuhren, weil sie zu groß und zu selten geworden waren. Eine merkwürdige Sache:
selten
werden.
    Sie liebte die Kinder, vor allem das Mädchen, das sie immer anquietschte und bei den Ohren anfasste, wenn sie sie sah.
    Manchmal, wenn es wirklich heiß war, dienten diese riesigen Dinger auch als Fallen. Das sonnenheiße Blech lockte aus der Nachbarschaft Katzen an, die sich dann auf der Motorhaube niederließen, sich genüsslich ihre Ballerinabeine oder den Hintern putzten und sich schließlichausstreckten, um in der Sonne zu braten. Dann konnte man sich von der Verandatür aus anschleichen, das Bellen, das einem genüsslich in der Kehle aufstieg, unterdrücken – und dann: Wah! Wah! Und hinterher das Entsetzen genießen, mit dem die Katzen über den Zaun in die Nachbargärten flüchteten. Es war herrlich, diese vielen buschigen Schwänze und gesträubten Buckel, diese schnellen, kleinen Pfoten, wie sie auf dem Blech ausrutschten und sich vielleicht noch daran versengten wie an einer heißen Herdplatte!
    Aber keines dieser Autos war das richtige. Sie schnupperte lange an jedem Türgriff, aber jener seltsame Reigen aus Bildern, die durch ihren Kopf gegeistert waren, schien endgültig versunken.
    Sie schlief, eingerollt zu einer kompakten Fellkugel, in einem Gebüsch gleich neben einem kleinen, orangen Kasten, der, wie viele Dinge auf der Welt, mit Elektrizität gefüllt war und in der Dunkelheit beunruhigend summte.

    Messerschmidt sah sie, sog ihren Geruch in sich ein, der ihm so wehtat, als hätte man seine Lungen mit heißem Blei gefüllt. Er lag in seinem Bett und seine Beine wurden von einer warmen Zunge abgeleckt. Dazu hörte er eine Stimme, die in einer unbekannten Sprache mit ihm redete. Wie das ewige Zirpen der Grillen oder das abendliche Gemurmel der Glocken.
    Er träumte und er sah sie an.
    Das arme Geschöpf musste herumrennen wie ein Grammophon auf Beinen, das lästige blaue Ding, das sie um

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