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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Schal, erst recht hier drinnen, wo es nur eine einzige Jahreszeit gibt: die Verwesung.
    Ich stand auf, fächelte mir mit einer Broschüre über tibetische Atemtechniken ein wenig Luft zu und wanderte den Gang entlang. Ein Kinderbild nach dem anderen. Generationen von hospitalisierten Kindern, eingesperrt, abends allein, ohne Eltern, aufgemuntert von einem fetten, borderline-religiösen Clown, der nicht einmal durch eine sperrangelweit offene Tür gehen konnte.
    Fette Sau.
    Generationen von –
    Kinderstation! Der Schal fiel mir aus der Hand.
    Ich ließ ihn liegen und rannte zur Treppe. Auf einen Lift zu warten hätte ich nicht ertragen.
    Wer würde mir entgegenkommen? Wen würde ich rückwärts die Stufen hinunterwerfen müssen, in den sicheren Tod? Niemand, das Treppenhaus war leer. Nur die lauten Echos meiner Schritte. Niemand kam mir in die Quere.
    Die Kinderstation! Das falsche Stockwerk!
    Wie viele Minuten? Siebzehn. Sieben. Zehn.
    Die Ziffern auf meinem Handgelenk arbeiteten unterdessen weiter, vergrößerten den Irrtum, die Peinlichkeit, mein Herz war mir als Ballon in den Hals gestiegen und klopfte nun dort wie ein pulsierendes Geldstück unter der Zunge. Ich streifte die Wand, als ich im Stiegenhaus die Laufrichtung änderte, nach oben, nach oben. Vierter Stock, vierter Stock. Warum liegen im vierten Stock überhaupt noch Menschen? Warum sind dort nicht nur Abstellkammern und Restaurants, die im Brandfall entbehrlich wären?
    Atemlos erschien ich vor einem Mann in Weiß, der gleich eine Schwester zu sich winkte.
    – Sie sind kurz nach Hause gegangen?
    – Nein ich hab unten ich hab … unten also ist doch … egal jetzt bin ich jedenfalls da kann … ich jetzt zu meiner …
    Ich schnaufte den Rest der Luft aus und stützte mich mit den Händen auf meinen Knien ab.
    – Ja, dann nehmen Sie doch bitte hier Platz, sagte die Schwester in einem Tonfall, der verriet, dass sie sich von gesunden Menschen normalerweise nicht aus der Ruhe bringen ließ.
    Sie zeigte auf eine der Sitzecken, in der ich gerade eben gewartet hatte. Nur der Polsterbezug der Sessellehnenhatte ein anderes Muster. Schottenrock. Die in der Kinderstation waren von einem aufdringlichen Grün.
    Ich setzte mich hin, immer noch schwer atmend, obwohl ich inzwischen das Gefühl hatte, ich übertrieb mit meiner Erschöpfung vielleicht ein wenig, und krallte die Finger in die Sitzfläche. Ich erwürgte den Clown, langsam und genüsslich. Seine fettige, von unzähligen Schminkschichten unmenschlich verfärbte Haut schmatzte unter meinen Fingern, verlor immer mehr an Spannkraft und erschlaffte schließlich.
    Ich schloss die Augen, erschöpft, nur für einen Moment.

Das wandelnde Grammophon
    Der Hund ist der große Humanist unter den Tieren. Uljana bildete von dieser Tatsache keine Ausnahme. Doch die eine Nacht im Freien, unbeachtet von den Menschen, die doch eigentlich alle für sie zuständig waren, hatte sie etwas verbittert. Als sie am Morgen die Reste eines lästig über ihren Nacken galoppierenden Traums abgeschüttelt hatte, war ihr alles entsetzlich und hoffnungslos erschienen, kalt und zugemauert, eine riesige, unverständliche, gesetzlose Welt, die im Innersten so herzlos war wie Nebel.
    Vor kurzem hatte sie wieder das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden. Ein alter Mann, der auf den ersten Blick vertraut gerochen hatte, erschreckte sie, indem er etwas Großes, Unförmiges schüttelte. Aus dem Ding fielen Tropfen, und Uljana musste aufpassen, dass sie nicht wieder nass wurde. Das Wasser von gestern war mehr als genug gewesen.
    Sie rannte weiter, bog um eine Ecke.
    Die Hündin schüttelte den Kopf über irgendeine Irritation, ihre Ohren flappten gegen den Trichter. Dann überquerte sie die Straße und musste achtgeben, dass sie nicht von einem riesigen Autobus erfasst wurde.
    Das alles durfte gar nicht wahr sein.
    Sie setzte eine Pfote vor die andere. Das alles passierte gar nicht ihr. In ihrem Kopf wirbelten die Stimmen wild durcheinander, die Töne und Geräusche, die Gerüche, vor allem die Gerüche, sie reagierte, zuckte unkontrollierbar, wenn sie meinte, einen plötzlichen Lockruf zu hören, aber dann hatte sie sich alles nur eingebildet und tappte weiter.
    Sie fand einen überfahrenen Vogel am Straßenrand und schnupperte so lange an ihm, bis das platt gewalzte Tier keinen Sinn mehr ergab. Am Ende war es nur ein nichtssagender Fleck auf dem Asphalt.
    Sie hörte ein Geräusch und wandte sich um. Ein alter Mann ging schwerfällig die Straße

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