Die Frequenzen
im Aufenthaltsraum Platz. Ihre Familie (oder das, was ich dafür halte) könnte sie demnächst besuchen kommen. Kein Grund für Konfrontationen.
Die einzige Gesellschaft im Aufenthaltsraum ist eine etwas rundliche Frau, die sich auf ihre hochgezogenen Knie stützt. Ihre hübschen weißen Turnschuhe liegen vor ihr auf dem Boden, in einem merkwürdigen Winkel, wie ein Autounfall von oben.
Eine Melodie ertönt, unbekannt, eine schnelle Techno-Nummer. Die Frau kramt ihr Telefon aus einer Speckfalte hervor und nimmt den Anruf an.
Sofort verzieht sich ihr Gesicht, es bildet Falten, die ganz und gar unnatürlich wirken. Neue Farben erscheinenwie aus dem Nichts, sie verwandelt sich in Picassos berühmte
Weinende Frau
.
– N-nein.
Ihre Stimme ist durchscheinend und zaghaft. Ihr verzweifeltes Gesicht bleibt verzweifelt. Eine Hand wandert langsam vor ihren Mund, bleibt dort, friert ein.
– Du … du sollst mich nicht mehr anrufen, sagt sie, still weinend.
Wieder eine lange Pause. Am anderen Ende liest jemand ein ganzes Buch vor. Dann:
– Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht … ich will aber nicht mehr reden …
Eine sehr lange Pause. Der Anrufer redet und redet. Man hört, wenn man sich sehr konzentriert, sogar seine kleine blecherne Stimme.
– Aber ich … aber ich … nein … ich hör dir nicht mehr zu … ich will nicht mehr …
Minuten folgen, in denen die Frau mit verzweifeltem Gesicht an die Wand starrt – wo sie allein den schwarzen Schlund wahrnehmen kann, in dem ihr Leben gerade zu verschwinden droht. Dann bringt sie mit letzter Kraft hervor:
– Ich aber nicht … ich will nicht mehr reden …
Entweder der Anrufer spricht sehr, sehr langsam, vielleicht durch einen Sprach-Synthesizer für gelähmte Menschen, oder er hat wirklich erstaunlich viel zu sagen. Oder er wiederholt sich. Immer und immer wieder. So wie die Frau, nur mit viel weniger Worten:
– Du … sollst mich nicht anrufen … ich … ich will nicht mehr …
So geht das ganze zwanzig Minuten. Ich schließe die Augen und versuche an etwas Neutrales zu denken, einen Zahnputzbecher oder eine Weinbergschnecke, sehe aberdurch die geschlossenen Lider nur das entsetzte Gesicht der Frau und höre ihre tröpfelnden, einsilbigen Antworten. Ihre Sätze wiederholen sich, in wechselnder Permutation. Ah, die ewige Unmöglichkeit, die Ohren jemals vollkommen zu verschließen. Egal, was man unternimmt, der Kopf hört immer mit, Schädelschall, es genügt nicht, sich die Ohren zuzuhalten, etwas dringt immer durch.
– Aber … ich … ich will nicht …
Leg doch einfach auf, du dumme Kuh. Leg auf.
Eine Krankheit, denke ich, ferngesteuerter Telefonismus.
Remoting
. Ein Fall von
Remote Controlling
. Eine Dokumentation, moderiert von einer jungen Moderatorin mit Wackelohrringen, blonden Haaren, eingängigem Vornamen.
(Die Frau wimmert ins Telefon. Vermutlich schüttelt sie dazu langsam den Kopf. Leg auf, du verdammte Idiotin.)
Einmoderation. Schnitt in ein Wohnzimmer. Die österreichische Durchschnittsfamilie sitzt beim Abendessen. Ein Anruf im Nebenzimmer. Die ganze Familie weiß, wer der Anrufer ist. Die Mutter stürzt wie in Trance zum Telefon. Sie hört sich die Beschimpfungen an, verfällt in einen katatonen Zustand, weint, bittet den Anrufer verzweifelt, endlich zur Vernunft zu kommen,
bitte, bitte, bitte
.
(– Aber … ich will aber nicht … nicht mehr reden, bitte …)
Bitte, bitte, bitte
. Vollkommen verängstigt bricht sie schließlich auf dem Küchenfußboden zusammen. Die Familie bückt sich über sie. Sie blickt zu ihnen auf, erkennt niemanden. Dann läutet das Telefon wieder.
Schnitt auf einen Experten.
Bei
Remote Controlling
handelt es sich nicht um Terroranrufe im herkömmlichen Sinn, da der Anrufer meist ein Verwandter ist oder zumindest ein guter Bekannter. Die Rechtslage ist hierbei so klarwie unbefriedigend: Der Anrufer macht sich keines Verbrechens schuldig, da er a) nicht anonym bleibt und b) keinerlei Obszönitäten oder Drohungen von sich gibt. In den meisten Fällen spricht er von ganz allgemeinen unangenehmen Angelegenheiten, auch nicht immer von denselben Dingen, damit man ihm nicht vorwerfen kann, er würde jemanden belästigen. Und diese unangenehmen Dinge, so würde jeder Verteidiger vor Gericht argumentieren, können … eben … solche emotionalen Gefühlsausbrüche … eben … zur Folge haben
.
(– Ich hör dir nicht mehr zu … nein, ich hör nicht mehr zu … ich … bitte …)
Schnitt. Zu sehen ist die
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