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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Hätten sie das Kraftwerk voller Frauen gehabt, hätten wir jetzt nicht diese Pest am Hals.
    Er schwitzte stark, während er sprach. Eine Frau würde nicht einfach alles unter den Teppich kehren, meinte er, und dann noch mit hochrotem Gesicht in einem unauffälligen Winkel der Erde warten, bis die Katastrophe von selbst ausgebrannt war.
    – Bitte, lass, sagte meine Mutter schwach.
    Sie lag auf der Couch, ihr Gesicht unter einem Polster. Was für meinen Vater ein politisches Spektakel war, an dem sich sein Verstand entzünden und sein Verantwortungsgefühl wund reiben konnte, war für sie der Jüngste Tag. Dass sie sich den Reaktorunfall von Tschernobyl so zu Herzen nahm, machte meinen Vater immer wütender. Schließlich stritten sie sich halbe Tage lang über die ökologische Zukunft Europas. Mein Vater schlug im Zorn mit der Faust auf den Fernseher, und dieser erlosch mit einem Blitz. Erst nach drei Stunden ließ er sich wieder einschalten und zeigte, wie aus Rache, die Nachrichten. Männer in schwarzen Uniformen gingen mit Wasserschläuchen durch das unscharfe Bild und wuschen verstrahltenStaub von den Fassaden des Geisterstädtchens Pripjat.
    Seit dem Tag der Reaktorkatastrophe hat mein Gedächtnis keine größeren Lücken, besteht aus vielen konkreten Situationen, die allesamt zusammenhängen und aufeinander einwirken, immer noch. Eine Rube-Goldberg-Maschine vergangener Ereignisse. Davor ist alles ein Gewirr von einzelnen Szenen und unerklärlichen Bildern.
    Ich war in einem Punkt vielleicht nicht ganz ehrlich. Mein Vater war an jenem Wintertag verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Ich stellte anfangs viele Fragen, die unbeantwortet blieben. Aber die Tatsache, dass meine Mutter keine Antworten mehr wusste, keine finden oder erfinden konnte, war nicht der Grund, warum ich sehr bald ganz aufhörte zu fragen.
    Etwas lange Vergangenes fiel mir ein, etwas, das mit Verschwinden und Geheimhaltung zu tun hatte. Es ließ sich, nachdem es mir einmal eingefallen war, nicht mehr aus meinem Kopf vertreiben, die Erinnerung daran hielt mich nächtelang wach, störte meine Konzentration bei Schularbeiten und bescherte mir regelmäßig einen unerklärlichen Durchfall, infolgedessen ich fast fünf Kilo abnahm.
    Es war mein erstes Schuljahr, eine unangenehme Zeit voller neu auferlegter Zwänge, Stundenpläne, Stillsitzen und die unfreiwillige Bekanntschaft mit einigen Kindern, die wie verkleidete Zwerge wirkten und jeden Augenblick die Maske von ihren verrunzelten Gesichtern reißen konnten, um
Erwischt! Reingefallen!
zu brüllen.
    Meine Eltern ließen sich von meiner Niedergeschlagenheit anstecken. Aber natürlich nicht nur sie, sondernauch die Bäume vor dem Fenster, die Wolken, die Drehdinger an den Wasserhähnen (mit dem roten und dem blauen Punkt), sogar die Nachbarskinder, die in eine andere Schule gingen und mich nicht mehr wahrnahmen, weil meine Schule in einer anderen Parallelwelt lag, auch das Spielzeug, das in einer großen Holzkiste unter meinem Bett lagerte, die Sammlung Comic-Hefte, alles wurde um eine Spur trauriger, hilfloser und verschwiegener. Die Batterien in einer großen Actionfigur, die einige Militärkommandos auf Knopfdruck sprechen konnte, waren eines Morgens einfach leer, und es gab keine Möglichkeit, den Deckel auf dem nackten, muskulösen Rücken der Figur zu öffnen, um sie zu wechseln. Kein Schraubenzieher passte in derartig winzige Schrauben.
    Der Prozess war unaufhaltsam, alles steckte sich mit Ausweglosigkeit an, die Schuhe, die ich trug, das Badewasser, das immer entweder zu kalt oder zu heiß war, die Regenschirme, die von Kleiderhaken baumelten und langsam den Geist aufgaben, weil es in dem heißen Sommer nie regnete. Die unwirkliche Zimmerpalme, die neben dem Telefonkästchen stand wie ein steifer, grün angemalter Springbrunnen.
    Ich wunderte mich nicht, als mein Vater meine Mutter eines Tages ohrfeigte. Er hatte das schon vorher manchmal getan, aber diesmal war ich schuld, meine Niedergeschlagenheit, meine aussichtslose Schulkarriere. Die Lehrerin nannte mich zwar einen aufgeweckten und blitzgescheiten Schüler, aber man sah deutlich, dass sie log. Nicht einmal meine Mutter fiel darauf herein.
    Es half nichts.
    Mir wurde klar, dass ich den gesamten Haushalt vergiftete. Eine Weile versuchte ich, den Gedanken zu ertragen, mich für den Rest meines Lebens in den Wäldern zuverstecken. Trotzdem würde ich noch zur Schule gehen. Denn wer keine Schulbildung besaß, war verloren. Soviel hatte

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