Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
ich verstanden. Aber beides auf einmal ging wahrscheinlich nicht. Ich konnte nicht verantworten, dass wegen meiner fehlenden Eignung für die Schule das Leben meiner Eltern und aller Dinge, die mich etwas angingen, langsam vor die Hunde ging.
    Ich bereitete mich nicht besonders darauf vor, aber eines Tages war die Zeit gekommen und ich ging etwas weiter als sonst, nachdem sich meine Mutter auf einer schattigen Bank im Volksgarten mit einer befreundeten Mutter auf ein Gespräch eingelassen hatte.
    Zuerst testete ich, ob ich überhaupt bis an den Rand des Parks gehen konnte.
    Es war möglich, aber ich spürte schon hier den Druck unsichtbarer Fesseln in der Brust. Außerdem begann das Herz zu schlagen und alles wurde sehr traurig und einsam. Ich ging noch einmal zurück – ein Luftholen, bevor man sich in schwarze Wassertiefen hinabfallen lässt.
    Schließlich, nach mehreren Testläufen, tat ich es: Ich lief weg. Schon nach wenigen Schritten im
Weg
wurde mir schlecht.
    Ich irrte durch den Metahofpark, eine winzige Grünanlage in der Nähe des Bahnhofs.
    Im Gras klapperte etwas. Ich hockte mich hin. Es war eines dieser Silvesterspielzeuge, ein weißer Totenkopf, der mit den Zähnen klappern konnte.
    Ich hob ihn auf. Neben seiner rechten Augenhöhle befand sich der kleine Hebel zum Aufziehen. Ich drehte daran, ein bestätigendes Geräusch ertönte,
Rsss, Rsss, Rsss
– ich drehte weiter und das Geräusch verschwand. Der Hebel drehte leer durch. Ich ließ los. Der Totenkopf tat gar nichts. Ich hatte zu weit gedreht und ihn damitkaputtgemacht, ihm eine unlösbare Kiefersperre verpasst.
    Missmutig verschwand der Kopf in meiner Hosentasche, wartete darauf, von seiner Lähmung geheilt zu werden. Glühende Augenhöhlen. Glatte weiße Stirn. Bewegliches Kiefer, Scharnier, Grashalme kauend. Seltsame Erfindung: Zähne.
    So schnell ich ihn betreten hatte, verließ ich den kleinen Park wieder. Eine namenlose Straße, in der nur schwarze und weiße Autos parkten. Welches Jahr hatten wir wohl? Ich inspizierte die Autos. In zweien von ihnen hing derselbe Plüschaffe im Fenster, mit Saugnäpfen als Pfoten. Das Haus in der Mitte beobachtete mit seinen schwarzen Fensterlidern jeden meiner Schritte.
    Die Haustür war offen, so spät noch. Eine weitere Bestätigung. Wofür, das war mir nicht klar.
    Im Treppenhaus stellte ich mich vor eine der Wohnungstüren und hob den Briefschlitz an. Ich spähte hindurch. Eine fremde Welt, bewohnt von fremden Lebewesen. Nichts bewegte sich, nur ein Radio schrie in einem anderen Zimmer nach seiner Mutter. Dann erschien eine weiße Gestalt mit monströs verkleinerten Gliedmaßen. Sie wackelte direkt auf mich zu, wollte mir die Tür aufmachen.
    Ich flüchtete.
    Vor Aufregung konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und pinkelte an die Kellertreppe. Der Gestank war entsetzlich.
    Als ich nach Hause kam, war nichts passiert. Meine Mutter musste die ganze Sache verheimlicht haben, um meinen Vater nicht auf Gedanken zu bringen.
    Auf Gedanken …
    Sie hätte mich zwar kurz gesucht, sagte sie, aber da sie mich nicht gefunden hätte, sei sie nach Hause gegangen.
    Mein Vater wusste von nichts und blätterte in seiner Zeitung. Hin und wieder gab er einen Kommentar zum Weltgeschehen ab, mit geschlossenen Lippen.
    Natürlich war ich auch erleichtert. Strafen blieben aus, solche Maßnahmen waren wahrscheinlich nicht mehr nötig. Es war ein erweiterter Testlauf gewesen, eine Simulation, so nahe der Wirklichkeit, wie man überhaupt kommen konnte. Aber das Ergebnis des Testlaufes war katastrophal: keines.
    Erst am Abend brach die Verzweiflung vollends durch. Ich tauchte in der Badewanne unter und verschluckte mich an dem heißen Wasser. Als ich wieder zu Atem kam, wurde mir vollständig klar, dass meine Mutter niemanden alarmiert hatte, niemanden. Nicht meinen Vater, nicht die Nachbarn, schon gar nicht die Polizei. Ich war sogar an einem Polizisten vorbeigekommen, erinnerte ich mich. Aus der Ferne hatte ich ihn gesehen, auf einer Kreuzung, ganz und gar beschäftigt mit seinem Tanz, mit dem er den Verkehr dirigierte. Auch er war uneingeweiht gewesen, so wie alle Menschen der Stadt, bis auf meine Mutter. Niemand hatte sich über den verschwundenen Jungen Gedanken gemacht, niemand hielt von seinem Balkon Ausschau, niemand wusste, dass es ihn gab.
    Und es gab bestimmt viele. Ich war nicht der einzige.
    Wie viele mochten es sein? Hunderte. Tausende. Tausend mal tausend ist eine Million. Bestimmt war es eine Million. Bestimmt

Weitere Kostenlose Bücher