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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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fangen und verzehren konnte.
    Sie sah lange auf das Fenster, bis es abkühlte und sich zu den anderen Fenstern gesellte, genauso langweilig, genauso bedeutungslos wie alles ringsum. Irgendwann ging das Fenster auf, und eine dicke, alte Frau erschien und lehnte sich auf das Fensterbrett. Sie steckte sich einen Finger in den Rachen und erbrach sich auf die Straße.
    Uljana schüttelte sich und die Überreste der Halskrause flatterten wie Flügel um ihren Kopf. Sie hatte sich geirrt. Es war der falsche Ort, obwohl alles stimmte, Autos, keine Menschen, Büsche. Das alles war sehr verwirrend.

Die Panne, dritter Akt
    Eine notwendige Abschweifung
zu Ehren meines Einfallsreichtums
    Wenn es zu einer globalen Katastrophe kommen würde, sagte meine Mutter einst vor langer Zeit, würde man einen kleinen Teil der Menschheit mit Sicherheit evakuieren. Die Mittel dazu waren ja vorhanden. Eine Rakete. Oder ein riesiges Schiff, so wie die Arche Noah.
    – Die Vorform der heutigen naturhistorischen Museen, sagte mein Vater.
    Der Zeitpunkt, ab dem meine Erinnerungen annähernd zusammenhängend sind, fällt mit der ersten Todesangst zusammen. Das Jahr 1986 und neue, weit entfernte Wörter wie
Reaktor
,
Radioaktivität
und
Strahlung
beherrschten das Tagesgespräch. All die unheimlichen Details. Die verwackelten Amateuraufnahmen von dem zerstörten Reaktorblock und die vielen Soldaten und Feuerwehrmänner, die mit einer so kompakten wie sinnlosen Atemmaske und einem baumelnden Lendenschurz aus Blei herumlaufen und Trümmer einsammeln. Die träge dahinfliegenden Helikopter, die über der Rauchwolke winzig kleine Sandsäcke wie Tränen fallenlassen. Und das pechschwarze Innere des Reaktors, glühende Trümmer, der blinde Fleck der Kamera, die nicht weiß, dass sie ihren eigenen Tod filmt. (In den Folgejahren gesellten sich andere Schrecken erregende Wörter hinzu,
Sarkophag
, der notdürftige Schutzmantel, der um den zerstörten Reaktorblock gebaut wurde und inzwischen undicht ist, oder
Strahlenkrankheit
. Bei der Strahlenkrankheit stellt sich kurz vor Eintritt des Todes für mehrere Tage eine scheinbare Erholung ein, der Patient fühlt sich besser, die Symptome, Durchfall, Blutungenund Übelkeit, gehen zurück – man nennt das die
Walking-Ghost-Phase
.)
    Meine Mutter steckte uns alle mit ihrer Angst an. Erst mehrere Wochen nachdem die Bevölkerung gewarnt worden war, keine Pflanzen zu sammeln, nicht im Sand zu spielen und auch nicht in Flüssen schwimmen zu gehen, gestand sie uns, dass sie noch am Vortag der Verlautbarungen im Regen spazieren gewesen war. Im Regen! Den Regenschirm hatte sie inzwischen natürlich weggeschmissen; seine Speichen ragten aus der Mülltonne im Hof. Auch mein Sandspielzeug wanderte in zwei großen Plastiksäcken in den Müll. Ich durfte keine Milch mehr trinken und auch nicht vor die Tür.
    Wenn ich am Fenster stand, hatte ich das Gefühl, dickere Luft zu atmen. Ich entdeckte Flecken auf meinen Händen und fragte meine Mutter danach. Sie nahm meine Hände in ihre – und ihre waren eiskalt. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte:
    – Es ist nichts. Das bildest du dir ein.
    Mein Vater versuchte meine Mutter mit psysikalischem Fachvokabular zu beruhigen, zeichnete einmal sogar eine improvisierte Skizze eines Atomkraftwerks auf die Tafel (das harmloser aussah als ein Puppenhaus), aber er erreichte damit nur das Gegenteil. Sie bestand darauf, dass Europa an einem schleichenden Zelltod sterben würde, in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren.
    Ich hatte wahnsinnige Angst und weinte oft nachts. Ich träumte von Männern in Schutzanzügen und Gasmasken, die lautlos durch unsere Wohnung gingen, während wir schliefen, und die Uhren an den Wänden verstellten.
    Mein Vater hatte weniger Angst, er war verärgert. Als Atomkraftbefürworter hatte er für Fehler nichts übrig. Er schimpfte auf die Dummheit der Sowjetregierung undauf die Verantwortlichen, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand wusste, ob es überhaupt Verantwortliche gab. Ich verstand nur sehr wenig von dem, was er meiner Mutter zu erklären versuchte. Alles drehte sich um einen bestimmten Typus von Mann, den typischen Sowjetmann, der ein Kind, ein Lauser, ein Rotzjunge geblieben war, obwohl er in einem grauen Arbeitsanzug herumging und auf internationalen Konferenzen öffentliche Erklärungen abgab, ein Mann, der nur nicht beschuldigt werden wollte und ungeheure Angst hatte vor den Strafen Gottes.
    – Eine Frau wäre dazu nie im Stande, sagte mein Vater.

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