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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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tausend Millionen.
    Sie alle irrten jetzt irgendwo durch die Straßen, durch den hinteren Parkausgang über den schmalen Brückensteg und dann hinter dem Gebäude, auf dem groß und unergründlich
Marienmühle
stand, durch den kleinenPark, und dann sahen sie, die abertausend Millionen verschwundener, vertriebener Kinder auch schon den Bahnhof, die Endhaltestelle jeder Flucht, weil es dahinter nichts mehr geben konnte außer Schienen und weitere Bahnhöfe, einer finsterer und unbekannter als der davor.
    Ich trocknete mich ab, ganz allein. Ich brauchte, ich erwartete keine Hilfe mehr.
    Ich legte mich ins Bett. Aber meine Mutter passte mich rechtzeitig ab und ließ es sich nicht nehmen, mir die Decke überzulegen. Ich ließ es geschehen. In Wirklichkeit hatte sie gar keine Ahnung, was passiert war.
    Das Ausmaß meiner plötzlich gewachsenen Ernsthaftigkeit brachte mich zum Weinen. Ich wischte mir die Tränen von der Wange, auch das ganz allein. Ich brauchte keine Hilfe, keine Aufmunterungen, keine Trostgeschenke, kein Taschentuch.
    Ich war jetzt auf mich allein gestellt, so wie alle Menschen. Und für die meisten Menschen gab es keine Auswege. Ich hatte mit der Möglichkeit gespielt, dass es für mich vielleicht einen geben könnte, aber sie hatte sich in Luft aufgelöst.
    Im Traum sah ich mich auf einem wild zugewachsenen Gelände, umgeben von verlassenen Gebäuden. Ein starker Wind wehte.
    Der Wind war radioaktiv, das spürte man. Die Fingernägel wurden rot davon.
    Ich stapfte durch niederes Gestrüpp, kam in einen verlassenen Hühnerhof. Der Zaun, der das leere Gehege begrenzte, zerbrach bei der ersten Berührung und rieselte als Mehl zu Boden. Wie lange er so gestanden haben mag, unberührt, intakt, eine hauchzarte Struktur, zum Schutz unsichtbarer Hühner?
    Die Sonne war von Wolken verhüllt, ein Himmel aus Weißblech, durchsetzt von dunkleren Fetzen, wie weich gekochte Knochen.
    Hinter dem Gebäude fiel das Gelände ab, ein steilerer Abhang, ein riesiges Becken, ein ausgetrockneter See. Keine Pflanzen, nirgends. Ich schaute mich um, versuchte irgendetwas zu erkennen. Plötzlich befand ich mich mitten in einem Graben.
    Hier war die Strahlung noch stärker. Ich hatte Angst, aber ich wusste, dass ich nicht umkehren konnte. Der Stadtrand war nur eine erste Etappe gewesen. Und darüber hinaus zu gelangen war lediglich der nächste wichtige Schritt. Auch den hatte ich hinter mir. Was jetzt kam, blieb unklar.
    Meine Fingernägel leuchteten wie geschminkte Frauenlippen.
    Ich schaute zu dem verlassenen Hof zurück. Er sah klein und niedergebrannt aus. In der Einfahrt lag ein Auto auf dem Rücken, die Räder ragten ins Leere. Dem kleinen, brotfarbenen Schornstein, der mürrisch auf dem Hausdach hockte, fehlte der Rauch.
    Ich wanderte weiter, mich krümmend unter dem heißen Wind, der aus dem Nichts zu kommen schien und durch mich hindurch blies.
    Im Traum war mir klar, dass ein Fehler passiert war, irgendein schweres, nicht wiedergutzumachendes Versäumnis: Der See hätte längst, schon vor Jahren, mit Beton aufgefüllt werden müssen. Das hätte vielleicht das Schlimmste verhindert. Aber er war leer. Das Wasser fehlte. Und der Wind trug den radioaktiven Sand in alle Nachbarländer weiter, wo er sich im Trinkwasser, im Hausstaub, in den Kleidern festsetzte und die Menschen in Furcht erregende Schwarzweißaufnahmen ihrerselbst verwandelte und ihre vormals so kräftigen Bewegungen in die sinnlosen Spreizgebärden von Mahndenkmälern.
    Ich versuchte zu sprechen, aber meine Kiefer waren wie gelähmt. Ich fasste an meine Wange und berührte etwas Fremdes: einen kleinen, starren Hebel.
    Meine Mutter kam zu mir ins Zimmer gerannt, versuchte mich zu beruhigen. Aber ich schrie. Ich schrie. Ein Polster war auf den Boden gefallen. Schließlich brachte sie mir einen kalten Waschlappen und legte ihn mir in den Nacken. Eis! Ich war schlagartig wieder bei mir, sah meine gekrümmten Hände, hörte meine Stimme, meine Atmung, spürte die Decken. Das abgedunkelte Zimmer. Der Geruch der Feuchtigkeitscreme, nach der ihre Hände immer rochen. Empfindliche Hände. Für Berührungen an Hals und Wangen erdacht.
    – Ja … Ja … Ist ja gut …
    Sie blieb bei mir, bis ich wieder eingeschlafen war.
    Am nächsten Morgen ertappte ich mich dabei, wie ich vor dem Fernseher saß, der allmorgendlich Wiederholungen herunterleierte, als wäre nichts gewesen. Ein Joghurt tropfte weich von einem Löffel, den ich in der Hand hielt, zurück in den

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