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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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gefahren bin, in unfreiwilligen Schlangenlinien und immer viel zu schnell.)
    – Hör auf, sagte ich. Hör auf mit dem verdammten Geklingel, du machst mich ganz verrückt!
    – Aber
ich
muss immer an alles denken!
Ich
muss auf dich aufpassen und für dich sorgen! Er! Er kann sich aus dem Staub machen, einfach so! Hast du ja gesehen –
    – Mama, komm …
    – Du musst nichts überlegen, du musst nicht nachts wach liegen und dich fragen, was kommt morgen wieder, wie überstehe ich die nächste Woche, du musst nicht –
    Endlich setzte sie sich hin.
    –
Du
musst dich um absolut nichts kümmern, an
mir
, an
mir
bleibt alles hängen …
ich
muss an alles denken … verstehst du das endlich?
Ich
muss mir immer Gedanken über alles machen, an
mir
hängt jetzt alles, der ganze verdammte Haushalt, alles, begreifst du endlich? An
mir
!
    – Mama, komm jetzt … schau …
    – Nix
schau
! Immer sagen alle nur
schau, schau, schau
… niemand weiß, was ich durchstehen muss, was alles an mir hängen bleibt … niemand! Niemand, nicht einmal du!
    – Doch, ist schon gut … komm, jetzt nimmst du einen Schluck –
    – Ach, lass mich doch! Mein Gott! In der Zeit, da ich dir das alles erkläre, hätte ich längst den Geschirrspüler ausräumen können! Du hältst mich nur auf, lass mich!
    Ich drückte sie sanft in den Sessel.
    – Es ist schon gut, Mama, sagte ich, der Geschirrspüler ist ausgeräumt. Längst erledigt.
    – Aber … was ist mit der Katze? Wer füttert die Katze?
    – Mama …
    – Ich begreife das nicht! Warum muss eigentlich immer
ich
an all diese Dinge denken? Warum fällt es
dir
nicht ein? Würdest du die Katze einfach so sich selbst überlassen? Einfach so?
    Ich ließ einen Moment verstreichen, dann fragte ich:
    – Welche Katze meinst du?
    Sie schaute mich an, sah das Gesicht ihres Sohnes, ihres komischen, begriffsstutzigen Sohnes, der wieder einmal nicht verstand, was sie alles durchzustehen hatte, sah dieses vertraute Gesicht, verunstaltet von dichten Augenbrauen und Bartstoppeln.
    – Welche Katze, hm?
    Ich setzte mich zu ihr und nahm ihre Hand, als wollte ich mit ihr spielen.
    – Wie?, fragte sie.
    – Ach, gar nichts, sagte ich. Kannst du dich noch an die Pandora erinnern? Die ist immer da hinten gelegen, eingerollt. Und die Pfoten so über dem Gesicht.
    Ich machte die Katze nach. Meine Mutter starrte auf die Tischplatte. Dort befand sich ein riesiger Abgrund, ein Strudel, aus dem ihre Vergangenheit auftauchte, langsam und schwerfällig, ein triefendes Knäuel.
    – Ja, sagte sie.
    – Die mit dem roten Fell, sagte ich und spielte mit ihrer Hand, indem ich ihre Finger zählte, sie zu Zweierpaaren zusammenklaubte, wieder losließ und von neuem anfing. Das Spiel beruhigte sie.
    – Sicher. Sicher, warum auch nicht, sagte sie zerstreut.
    – Ja.
    – Du glaubst, ich erinnere mich nicht, sagte sie.
    – Nein, ich –
    – Sie hat immer da gelegen, da hinten, sagte sie, ohne in irgendeine Richtung zu deuten. Die Dora.
    Ich hielt ihre Hand noch eine Weile, dann ließ ich sie los. Die Hand mit den sorgfältig gezählten und geordneten Fingern blieb, wie sie war, sie sank nicht zurück auf den Tisch. Nach einer Weile sagte sie:
    – Sag mal, bist du … ich meine, ist das das Wetter, oder bist du auch so müde wie ich?
    Ich lachte, aus keinem besonderen Grund. Sie lachte erleichtert mit. Ihr Gesicht buchstabierte reine Freude darüber, dass sie noch einmal die Kurve gekriegt hatte. Müde. Das Wetter. Gelächter zu zweit in der Küche.
    – Ja, bin ich, sagte ich. Ziemlich.
    – Oder … oder, weißt du, ist das das Wetter, wiederholte sie, noch ein wenig lustiger als zuvor.
    Ich machte ihr den Gefallen und lachte noch einmal. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, atmete tief aus. Sie war wieder in der Gegenwart. Ihre Hand rollte sich ein, langsam wie ein brennendes Blatt, und wanderte in den Schutzgriff der anderen. Ihre Hände bildeten ein sanftes Mumienkreuz auf ihrer Brust.
    Ihr Gesicht nahm, je älter sie wurde, immer mehr die Züge eines Säuglings an. Zahnlos, klein und rund. Auch fielen ihr die Haare an verschiedenen Stellen aus, und sie kämmte das spärliche Haar, das geblieben war und das sie immer noch lang trug, jeden Morgen mit einer großen Bürste. Merkwürdig, diese sonderbare Freundschaft zwischen alten Frauen und Haarbürsten. Sie sitzen stundenlang vor einem bis zur Unkenntlichkeit beschlagenen Spiegel, das lange, weiße Haar über eine Schulter gelegt, und kämmen es, viele hundert Male

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