Die Frequenzen
Räume, die in andeutungsreichem Schweigen hinter angelehnten Türen lagen. Mit den Straßenschuhen stapfte ich weiter durch den hinteren Teil der Wohnung. Nichts. Das Licht des Nachmittags fiel durch die Balkontüren, vor denen sich strahlend weiße Vorhänge wiegten. Verträumte Moirémuster. Ich ging ins Badezimmer. Ein sonderbarer Anblick: bunte Wäschestücke hingen in verschlungenen Knäueln aus der offenen Waschmaschine in einen grünen Wäschekorb – als hätte sie die triefend nasse Wäsche und all die Geschirrtücher in einer zusammenhängenden Wurst ausgespieen.
Dann entdeckte ich es, ach, alles meine Schuld, die Klotür: Sie war geschlossen und im Klo surrte die Lüftung. Alles in Ordnung. Ich stützte die Arme auf meinen Knien ab und atmete durch. Ich klopfte.
– Die Tür war offen, rief ich hinein. Du darfst die Tür nie offen lassen, sonst kommen Fremde in die Wohnung, so wie ich –
Ich lachte auf.
Natürlich erwartete ich keine Reaktion. Menschen auf dem Klo sprechen nicht gern. Aber ich musste mich zumindestbemerkbar machen, sonst schreckte sie sich noch, wenn sie mir plötzlich im Flur begegnete. Die Lüftung war laut.
Trotzdem begann ich zu reden. Ich erzählte von meiner Arbeit, von Max, dem Pfleger, der mir vom ersten Augenblick an unsympathisch gewesen war, der eine Glatze hatte, wie sie sonst nur böse Kobolde hatten. Ein Widerling, der alles kontrollieren wollte, auch mich, den Neuen. Und er schimpfte mit den alten Menschen, in einem scharfen, militärischen Tonfall, dass man glaubte, er wollte sie demnächst alle umbringen.
– Aber die Arbeit ist immerhin interessanter als das Studium, sagte ich laut zu der Klotür.
Dann schwieg ich und ging auf und ab. Nach einigen Minuten klopfte ich ein weiteres Mal. Keine Reaktion.
Nachdem ich mich überwunden hatte, die Türklinke zu drücken (die Tür, die ein wenig verzogen war, öffnete sich sofort einen winzigen Spalt, sodass mein Blick durchschlüpfen konnte), und erkannt hatte, dass niemand meinen Gutenmorgen-Erzählungen lauschte, ließ ich alles stehen und liegen und rannte aus der Wohnung auf die Straße.
Links oder rechts? Welchen Weg war sie gegangen?
Ich überließ die schwere Entscheidung meinem Körper. Er wählte links.
Am Ende der Straße stieg Dampf aus einem der Kanaldeckel, als hätte meine Mutter vergeblich versucht, ihre Spuren zu verwischen. Ich rannte an den Zäunen des kleinen Hundeheims vorbei, das sich seit einigen Jahren hier befand, ein hässliches Gebäude aus fleischfarbenen Ziegelsteinen. Gedämpftes Gebell kleiner Hunde.
In meinem Kopf fielen schlimme Vorahnungen durcheinander, wie die Trümmer einer einstürzenden Brücke.Meine Mutter in Polizeigewahrsam, notdürftig bekleidet, mit wirren Haaren, und einer der Polizisten hält sich ein Taschentuch vor seine blutige Nase. Meine Mutter mit Glatze, bewusstlos auf dem Gehsteig vor einem Friseursalon. Meine Mutter in einem roten Kleid, mit nichts sonst bekleidet, ein Träger hängt ihr über die Schulter herab, der Mund ungeschickt mit viel zu viel Lippenstift beschmiert, Lidschatten bis hinauf zum Haaransatz.
Ich kam an einem Gasthaus vorbei, vor dessen hell erleuchteten Fenstern ich etwas langsamer wurde. Nichts.
Meine Mutter, umgeben von japanischen Touristen, die sie unter großem Gelächter fotografieren. Meine Mutter, versunken in eine philosophische Debatte mit einem leprakranken Obdachlosen. Meine Mutter mit einem Baby in der Hand, das sie in einem Anfall von Zuwendungsbedürfnis aus einem unbeaufsichtigten Kinderwagen gestohlen hat und nun verwirrt in ihren Händen schaukelt, weil es nicht aufhören will zu schreien.
Ich kam an einem überquellenden Müllkorb vorbei.
Meine Mutter, die das Kind in den Müllkorb stopft. Oder einen von den japanischen Touristen, der selbst das noch interessant findet und glucksend mit sich geschehen lässt.
Mit unbestimmten Erwartungen hielt ich vor einer Tabaktrafik. Die Besitzerin kannte mich seit meiner Kindheit, allerdings hatte ich schon seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie hatte einen kleinen Mops, das wusste ich noch, der mit ihr in dem winzigen Geschäftslokal wohnte. Als ich eintrat, ließ die automatische Ladenglocke einen Stoßseufzer in ihrer unbekannten Sprache hören.
– Guten Morgen.
– Guten Morgen, antwortete eine junge Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Haben Sie meine Mutter gesehen?
– der Satz hatte augenblicklich seine Bedeutung verloren, löste sich auf und wurde zu
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