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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Nachricht für sie, ein Gedicht, ein großes, erhabenes Geheimnis, eine Schatzkarte! Aber zu spät, die Frau stopft es durch die enge Ofentür, das bucklichte Männlein fällt zwischen die glühenden Kohlen, und schon wird die Tür verriegelt. Im Zimmer wird es sehr warm.
    – Ist dir kalt? Soll ich die Heizung einschalten?
    – Nein. Wie geht die Geschichte aus?
    – Keine Ahnung, welche Geschichte?
    – Alex?
    – Was?
    – Magst du jetzt den Film sehen, den ich gemacht habe?
    – Nein, ich finde eigentlich, du solltest jetzt lieber nach Hause gehen. Deine Mutter macht sich sicher schon Sorgen.
    – Ich hab den Film in der Nacht aufgenommen. Vielleicht muss man ihn im Dunkeln sehen.
    – He, hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?
    – Aber meine Mutter ist gar nicht da, sagte er und stand verärgert von seinem Sessel auf. Können wir jetzt den Film schauen?
    – Sie ist nicht da? Wo ist sie denn?
    Gerald setzte sich wieder hin. Er sah mich nicht an, er wirkte beleidigt.
    – Ist deine Mutter in der Arbeit?
    – Weiß nicht, sagt er. Keine Ahnung. Keine Ahnung.

Messerschmidt sieht
    Zuerst war da nur ein verwackeltes Kamerabild, Bewegungen von Personen oder leblosen Gegenständen, aufgesplittert in lauter kleine Quadrate, nichts sagende Verteilungen von Licht und Schatten, hauptsächlich schwarz. Aber dann hellte sich plötzlich alles auf, wurde klar und frühlingshaft, obwohl es ja schon Herbst war und die Blätter – ja, wie ging das noch gleich?
    Fallen. Die Blätter fallen.
    Nachdem sie sich aus dem schwarzen Schneegestöber der Pixelquadrate herausgelöst hatte, torkelte seine Tochter, von einem schweren Schlag auf den Kopf getroffen, gegen ein Verkehrsschild, das aus Butter war und ihrem Gewicht ohne weiteres nachgab. Dann schleppte sie sich taumelnd einige Meter weit und brach zusammen. Und die Hündin rannte davon, Hals über Kopf, Schwanz über Kopf, und ihre panische Angst presste sie im Laufen so zusammen, als näherte sie sich der Lichtgeschwindigkeit.
    Der einzige Zeuge. Seine Finger tauchten am linken unteren Rand der Aufnahme auf, zitternde, verrotzte Bubenfinger, von sehr heller Haut.
    Dann sah er wieder seine Tochter, diesmal ruhiger. Sie lag in einer Wiege, die inmitten von sausendem Gras in einem Hinterhof stand. Aber es war gar keine Wiege, sondern ein Klavier, ein aufgeklappter Flügel. Sie lag auf den stählernen Saiten, die mit roher Gewalt freigelegt worden waren, wie die Sehnen in der Hand des Toten in Rembrandts
Anatomiestunde
.
    Zwar war sie längst erwachsen, trotzdem schien sie hilflos, so wie sie es schon als Kind gewesen war. Er musste ihr beim Anziehen helfen und fragte sie, während ihrwuscheliger Frauenkopf durch den viel zu kleinen Ausschnitt des Hemdes schlüpfte, ob sie auch sagen könne, wo sie wohnte, welche Hausnummer, welcher Stock? Da sie es nicht sagen konnte und ihn nur mit dem universellen Tochterblick ansah, wiederholte er ihr die alte Adresse, dreimal. Es tat ihm gut.
    Kronenweg neun. Kronenweg neun. Kronenweg neun, dritter Stock.
    Natürlich,
das
war der Hinterhof. Er gehörte zu dem alten Haus, in dem er geboren worden war. Das Haus mit dem grauen Pferdebild.
    Valerie blödelte herum, zog sich selbst an den erwachsenen Haarzöpfen, streckte ihm die Zunge heraus. Zweifellos, sie war immer noch ein Kind. Diese Erkenntnis beruhigte ihn ungemein und ließ sein Herz zu einer rosafarbenen Lentikularwolke anschwellen. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass dieser ganze Prozess von Erwachsenwerden und Abschiednehmen nur
scheinbar
stattgefunden hatte. Eine Illusion. Hier hatte er nun den Beweis.
    Er stöhnte auf, tief bewegt.
    Selbst als er schon längst erwacht war und die an Zellengitter erinnernden Schattenspiele der Rouleaus über sich wandern ließ, zitterte die kleine vertrocknete Glasmurmel in seiner Brust von einem überwältigenden, lang anhaltenden Glücksgefühl.
    Er pinkelte, heiter und erleichtert, in seinen Schlafanzug. Es wurde warm, und die Wärme trug auf geheimnisvolle Weise den Namen seiner Tochter, der mit all seinen goldenen und blitzenden Silben durch seinen Kopf geisterte.
    Die japanische Pflegerin, die sich vormittags und oft auch den ganzen Tag um ihn kümmerte, schimpfte gutmütig mit ihm, als sie die Sauerei entdeckte, und legte ihn trocken.
    Dann sah er sie wieder, in der neuen Wohnung, in der sie damals den Hund mitgenommen hatte, seit er –
    Sie saß in ihrem Sessel. Das Problem war, dass er sich geirrt hatte. Nicht sie saß auf dem

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