Die Frequenzen
im selben Takt, von ganz oben bis ganz unten. Es beruhigt sie, sie reinigen sich von Staubpartikeln und schlechten Erinnerungen, ganze Vormittage lang, wenn niemand sonst im Haus ist.
Die Medikamente verwirrten sie immer mehr, und es kam vor, dass sie überhaupt nicht mehr wusste, wo sie sich befand und was mit ihr passierte. Sie fand Möglichkeiten, diese schwierigen Momente zu überbrücken. Oft machte sie einfach einen Scherz oder tat so, als fiele ihr plötzlichetwas ungeheuer Wichtiges ein. Meist half nicht einmal das. Gelegentlich war sie so verwirrt, dass sie mir zu einem imaginären Buch gratulierte, das ich angeblich geschrieben hatte. Der Titel dieses Phantombuchs wechselte ständig. Sie war so unendlich stolz auf mich. Ihr Sohn, ein echter Schriftsteller! Es war beinahe unmöglich, ihr zu widersprechen.
– War es schwer, einen … na, wie nennt man das … du weißt schon, einen … einen Ver
leg
er zu finden?, fragte sie und hielt mir, als verschlüsseltes Zeichen ihrer Anerkennung, einen sauber geleckten Teelöffel hin.
Ihr Nachtkästchen war vollgekleckert mit weißem Joghurt. Ich nahm ihr den Löffel aus der Hand.
– Ach, nein, gar nicht so, sagte ich.
– Was?, fragte sie.
– Jetzt schau, was du angestellt hast!, sagte ich, auf die Joghurtflecken deutend.
Sie schien zu überlegen, was diese Bemerkung bedeuten mochte.
Buch … Sohn … Schriftsteller … Joghurt
…
– Ja, sicher, warum nicht …
Dann verstand sie, die elektrischen Zäune, welche die Chemikalien in ihrem Gehirn errichtet hatten, wurden durchlässig, und ihr Blick hellte sich auf und wanderte zum Nachtkästchen. Ah, tatsächlich.
– Alles voll, sagte sie in einem Tonfall, in dem man auch über den Reiz einer verschneiten Landschaft sprechen würde.
– Alles voll, wiederholte ich.
– Meine Hand zittert, sagte sie. Vielleicht vor Hunger …
Während ich wischte, blieb sie im Bett sitzen und redete. Für kurze Zeit geriet sie neuerlich in die Vergangenheit,kam aber gleich wieder zurück, weil der Stolz über meine literarische Leistung ihre ganze Konzentration erforderte.
– Wovon handelt es?
– Handelt was?
– Das Buch.
– Welches Buch?
– Na, deines. Stell dich nicht blöd, bitte.
Sie sagte es sehr ernst. Ich legte das vollgesogene Wischtuch hin, blickte sie an.
– Ach, von gar nichts.
– Von nichts? Aber das sagst du jetzt nur so! Du willst nur nicht, dass ich es lese.
Sie griff in ihren Mund und nahm die Zähne heraus, als wäre das ein Beweis für ihre Vermutung. Sie betrachtete das entsetzliche Grinsen, das aus ihrem Mund gekommen war, eine Zeitlang, hielt es sich ganz dicht vors Gesicht, bewegte es auf sich zu, zwei Fische auf Kollisionskurs, dann berührte das Gebiss ihre Nasenspitze, und irgendetwas geschah – vielleicht sprang ein Funke über, sie zuckte zusammen und schaute verwirrt im Zimmer umher.
Dann steckte sie die Zähne zurück in ihren Mund. Es klapperte.
– Wenn du’s unbedingt wissen willst, sagte ich, es handelt von einem geheimnisvollen Landstrich in den Karpaten, in dem die Menschen wie die Blumen im Winter einfrieren und im Frühling wieder auftauen, sagte ich. Und die moralischen Implikationen, die sich daraus ergeben.
Ich hatte sehr schnell gesprochen, um sie vom Thema abzubringen.
Moralische Implikationen
, der Begriff setzte sie sofort außer Gefecht. Ihr Kopf zitterte.
– Sicher, sagte sie, warum nicht …
Aus dem „Konversationslexikon
der Jenseitsmythen“
(hrsg. v. Daniel Tammuz und Prof. Herfried Lorca),
Seite 598 f
.
doch natürlich liegt Lucumoria (so die eigentliche Schreibweise), wie man heute weiß, nicht auf dem Mond. Trotzdem galt der sagenumwobene Landstrich lange Zeit als eine Art dystopische Provinz unverständlicher und grundloser Gewalttaten, von denen man auf der Erde nichts wissen wollte. Wenn man so will, war L. für viele Gelehrten der Vergangenheit eine Art höheres Narrenschiff. Der Legende nach liegt L. in einer einsamen Gegend, die schon im Sommer nicht viel Sonne abbekommt. Eis und Schnee schließen es im späten Oktober ein, und erst im Februar bricht dieser Panzer wieder auf und lässt die Bewohner frei. Es ist eine Gegend, in der viele
Kalendergeschichten
angesiedelt sind. Die Einwohner von L. leben in vielen dieser Geschichten mit ihren längst verstorbenen Eltern zusammen, und niemals fehlt es darin an Menschen, die diese Verstorbenen sehen, berühren und sogar an den Mittagstisch einladen können.
Nicht der erste, aber sicherlich
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