Panther
1
Am Tag bevor Mrs. Stark verschwand, schleppten sich ihre Schüler vor der dritten Stunde wie immer stumm zum Biologieunterricht. Ihre Mienen strahlten die übliche Mischung aus Unlust und Angst aus, denn Mrs. Stark war die berüchtigtste und am meisten gefürchtete Lehrerin der Truman School.
Sobald es läutete, entfaltete sie sich steif, ähnlich wie ein Kranich, bis sie sich zu ihrer vollen Höhe von knapp eins achtzig aufgerichtet hatte. Dabei wirbelte sie mit der einen Hand ihren gespitzten Bleistift der Marke Ticonderoga, Stärke Nr. 2, herum. Ein untrügliches Zeichen für Ärger.
Nick warf Marta Gonzalez auf der anderen Seite des Gangs einen Blick zu. Sie hielt die braunen Augen fest auf Mrs. Stark gerichtet, während sich ihre mageren Ellbogen wie Zaunpfähle in ihr Biologiebuch bohrten und so dafür sorgten, dass es beim achten Kapitel aufgeschlagen blieb. Nick hatte sein eigenes Buch im Schließfach vergessen, und er fürchtete Schreckliches.
»Guten Morgen, Leute«, sagte Mrs. Stark mit so sanfter Stimme, dass es allen kalt den Rücken hinunterlief. »Wer sieht sich in der Lage, mir etwas über den Calvin-Zyklus zu erzählen?«
Nur eine Hand hob sich. Sie gehörte Graham, der immer behauptete, auf alle Fragen die richtige Antwort zu wissen, womit er allerdings schieflag. Mrs. Stark rief ihn nie auf, das war schon seit der ersten Schulwoche so.
»Der Calvin-Zyklus«, wiederholte sie. »Wer möchte?«
Marta sah aus, als würde sie sich gleich wieder übergeben. Das war schon einmal passiert, und kaum war der Boden aufgewischt, hatte sie von Mrs. Stark einen Aufsatz über die fünf wichtigsten Muskeln, die beim Erbrechen aktiv werden, aufbekommen.
Nick und den übrigen Schülern hatte es die Sprache verschlagen. Das konnte ja wohl nicht wahr sein – eine Lehrerin, die einem eine Strafarbeit verpasste, weil man sich übergeben musste?
»Inzwischen«, sagte Mrs. Stark gerade, »dürftet ihr alle hinlänglich mit dem Prozess der Fotosynthese vertraut sein.«
Marta schluckte zweimal heftig. Sie hatte schon Albträume von Mrs. Stark, deren blond gefärbtes Haar auf einer Seite so hochgetürmt war, dass es an eine Sanddüne erinnerte. Mrs. Stark besaß vier pastellfarbene Hosenanzüge aus Polyester, in etwas anderem hatte man sie nie in der Schule gesehen. Dazu flache Schuhe in ödem Braun. Die Augenlider schminkte sie sich tiefviolett, gleichzeitig machte sie aber nie einen Versuch, eine tiefrote alte Narbe an ihrem Kinn abzudecken. Die Narbe hatte die Form eines Ambosses und war Gegenstand wilder Spekulationen, aber noch nie hatte jemand den Nerv gehabt, Mrs. Stark danach zu fragen.
Martas flatternder Blick ging kurz zu Nick hinüber, dann zurück zur Lehrerin. Nick mochte Marta wirklich gern, aber reichte das, um sich für sie zu opfern, ausgerechnet bei Mrs. Stark? Die Lehrerin hatte begonnen, die Reihen abzuschreiten, und ließ ihren prüfenden Blick über die Plätze gleiten, um sich ein Opfer auszugucken.
Ein einzelner Schweißtropfen glitt wie eine Spinne an Nicks Nacken hinunter. Wenn er jetzt den Mut aufbrächte, die Hand zu heben, dann würde Mrs. Stark ihn sich sofort krallen. Sofort würde sie sehen, dass er sein Biobuch vergessen hatte, ein Verbrechen, das nur dadurch gutzumachen wäre, dass er den Calvin-Zyklus erklären und an der Tafel eine Skizze dazu zeichnen könnte. Mit beidem war nicht zu rechnen. Nick hatte noch nicht einmal den Krebs-Zyklus aus dem siebten Kapitel halbwegs verstanden.
»Pflanzen sind, wie ihr alle wisst, zentral für das Überleben der Menschheit«, sagte Mrs. Stark auf ihrem Patrouillengang. »Und ohne den Calvin-Zyklus könnten Pflanzen nicht existieren. Nicht existieren …«
Graham fuchtelte mit einem Arm in der Luft und zappelte auf seinem Platz herum wie ein Welpe. Der Rest der Klasse betete, dass Mrs. Stark ihn aufrief, aber sie tat, als wäre er unsichtbar. Abrupt blieb sie vor Martas Tisch stehen.
Marta saß stocksteif in der zweiten Reihe, hinter einem superschlauen Mädchen namens Libby, das alles über den Calvin-Zyklus wusste – überhaupt alles über alles –, aber selten einen Pieps von sich gab.
»Die Zeichnung auf Seite 169«, fuhr Mrs. Stark fort, »macht das ganz klar. Ihr habt da eine ausgezeichnete Darstellung, eine, die mit großer Wahrscheinlichkeit mal in einer Arbeit vorkommen dürfte. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit …«
Marta senkte den Kopf. Ein taktischer Fehler. Die Bewegung mochte noch so minimal
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