Die Frequenzen
ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, erzählt mir zusammenhanglos von ihrer Tochter und geht offenbar davon aus, dass ihre Geschichte für mich eine gewaltige und lange erwartete Neuigkeit darstellt. Sie holt oft Luft, gestikuliert viel und bildet Sätze, wie andere Leute Leitern aufstellen.
An manchen Stellen ihrer Erzählung über den neuen Freund ihrer Tochter (Dreadlocks, groß, sehr mager, mit leichtem Bartflaum auf der Oberlippe) erlaubt sie sich auffällige Wortwiederholungen oder macht zwischen einzelnen Satzteilen so lange Pausen, dass man meinenkönnte, sie sei über einen Ohrstecker mit Agenten in einem schwarzen Lieferwagen verbunden, von denen ihr die richtigen Formulierungen vorgesprochen werden.
Außerdem ist sie sturzbetrunken und muss sich an ihrer Zigarette festhalten, um nicht umzufallen.
– Und Sie wissen ich wissen Sie … bin nicht
die
Art von Mutter, die … wissen Sie?
Sie sieht mich sehr bedeutungsvoll an. Dann rutscht etwas in ihr, das sich lange an einem Felsvorsprung festgehalten hat, ab und ihre Beine knicken ein. Sie hält sich an meinem Arm fest.
– Nüstert?, schlage ich vor.
Sie sieht mich fragend an. Es ist mir einfach so eingefallen. Ein wenig hat mich wohl ihr Pferdegesicht inspiriert. Die Agenten im Lieferwagen blättern eilig in einem Konversationslexikon, finden das Wort aber nicht.
– Also, sagt sie.
Das Füllwort verklingt und die sonnenbebrillten Agenten in dem unauffälligen Lieferwagen hören auf zu blättern, legen das Buch beiseite und raten zum Rückzug.
– Nüstert, wiederhole ich. Nein, das hätte ich ja auch nicht gedacht, ich meine … immerhin sind Sie ja bei einer Hochzeit, oder?
Was ich sage, ergibt nicht den geringsten Sinn, aber überraschenderweise macht es sie glücklich. Sie gluckst, möchte ihr Glück artikulieren. Aber es kommt nichts. Mit hängender Unterlippe wartet sie darauf, dass die richtigen Worte wie ein Sardellenschwarm aus ihrem Mund schwimmen.
– Ja, sagt sie schließlich. Si’am Recht.
Lange Pause, während der sich die Agenten beratschlagen. Dann:
– Sie kenn mei’e Tochter?
Der Agent, der diesen Satz gesagt hat, zuckt hilflos mit den Achseln und schaut entschuldigend auf seine Kollegen. Alle blicken ihn böse an.
Was hast du jetzt wieder angerichtet?
– Nein, nicht persönlich, sage ich. Nur vom Nüstern eben.
Aber die Frau hat mir gar nicht zugehört. Sie blickt über ihre Schulter auf einen nichts sagenden Ausschnitt des Holzzauns. Wieder rutscht sie auf sich selbst aus, und diesmal berührt ihr Hintern für einen Augenblick sogar den Boden. Aber sie überspielt es, so wie Betrunkene ihre Missgeschicke überspielen: ohne Scham und beinahe froh über das bisschen Bewegung.
– Kenn’ Sie das auch?, sagt sie mit etwas veränderter und gefestigter Stimme. Kenn’ Sie das, wenn Sie durch so ein … so ein Nest aus Kälte gehen? Da war’s grad … Wenn’s ganz kalt wird, als wär da wer durchgegangen durch die ganze …
Sie zieht die Schultern hoch, deutet vage auf die Umgebung.
– Nein, Entschuldigung …
Ich reiße mich von ihr los und gehe in Richtung Bar davon. Gott sei Dank dreht sie sich nicht nach mir um, denn sie sucht immer noch die Ursache für ihre plötzliche Gänsehaut in den Sträuchern, die den kleinen Privatgarten in unregelmäßiger Dichte umwachsen und abschirmen. Ich stelle mich etwas abseits der Gäste auf und tue so, als würde ich telefonieren. Da beginnen meine Handflächen zu brennen, und auch die Schuhe krampfen sich über meinen Zehen zusammen. Was zum Teufel habe ich hier noch verloren? Ich muss Gerald wieder zurückbringen. Bestimmt habe ich mich inzwischen strafbar gemacht: Angriff auf eine wehrlose allein erziehende Alkoholikerin,Verschleppung eines ahnungslosen Kindes, Belästigung einer Hochzeitsgesellschaft.
Wie zur Bestätigung meiner Befürchtungen beginnen die Gäste mit den Vorbereitungen für ein Preislied. Man nimmt Aufstellung, putzt sich imaginären Staub von den Schultern, legt eine Hand auf den Bauch.
– Nach dem Lied gehen wir besser, sage ich zu Gerald.
– Okay.
– Gerald?
– Ja?
– Kein Tanzschritt, versprochen?
– He, jetzt, wo du’s sagst …
Die Gesellschaft beginnt zu singen. Es ist ein zutiefst albernes Lied, das zu einer volkstümlichen Musik gesungen wird.
Hoheute ist ahein Juhubeltag,
freut euch alle seeehr.
Jubeltag ist noch zuwenig gesagt,
jubelt noch viel mehr
.
Lihiebe ist ahein schöhönes Ding,
drum haltet sie gut fest.
Auf dass
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