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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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sprechen. Er nahm große Schlucke direkt aus der Flasche, spürte das angenehm draufgängerische Brennen der Flüssigkeit in seiner Kehle und ließ sich von Joachims inzwischen nur mehr gelallten Äußerungen provozieren.
    – Identität ist vollkommener Unsinn, schimpfte Walter. Identität fängt man sich ein wie einen Schnupfen oder einen Ohrwurm oder, im schlimmsten Fall, ein Unterbewusstsein.Ist dir das schon mal aufgefallen, dass alle immer Unterwusstsein … Unterbusstsein …
    Er rang eine Weile mit dem Wort.
    Joachim nickte vielsagend.
    – Im Grunde braucht niemand, fuhr Walter fort, niemand, kein Mensch, weißt du, zum Leben braucht kein Schwanz eine Identität. Oder ein Unbewusstsein. Alles Scheiße! Diese ganzen Scheißdebatten über Identität und Unterbewusstsein hat … hat … haben aber dazu geführt, dass inzwischen viele, viele Menschen irgendwie durch die Welt rennen und – anstatt das zu tun, wozu sie aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich hier sind, nämlich den anderen, den Mitmenschen die Lebenszeit irngwie erträglicher zu gestalten, irngwie … Und dabei wiederholen sie immer nur, immer nur den einen sinnlosen Satz wiederholen sie, wie einen Zauberspruch gegen Flöhe … Haha! Gegen Flöhe, weißt du? Gegen die eigene Verantwortungslosigkeit:
Wer
bin ich? Wer bin
ich
? Wer
bin
ich?
    Er sprach diesen letzten Satz aus wie das
Mea Culpa
in der Kirche und musste rülpsen.
    – Und besonders unerträglich sind diese ganzen Scheiß
Identitätsfetischisten
, die sich an so einem Scheiß wie Kulturtheorie oder Lit’raturwissenschaft aufgeilen und für die das Größte im Leben ist, wenn man ein Pro’lem mit der eignen Identität hat. Wenn’s nach denen ginge, dann … dann ist der Sinn des Lebens einzig und allein der, herauszufinden,
was für ein Mensch man wirklich ist
… diese Arschlöcher … Und dann, und dann, wenn einem das klar geworden ist, irngwie … nimmt man dieses unheimlich tolle Wissen und rennt damit glücklich in den Sonnenuntergang. Verstehst du, was ich meine?
    Joachim hatte das Kinn auf seine Faust gestützt. Waltersuchte einen Satz, den er wie einen Stempel unter seinen letzten Satz setzen konnte.
    – Wer nicht zumindest einmal was verloren hat … alles fellohren … haha, Fell-Ohren … nein, ich meine, der wirklich alles verloren hat, der darf … der darf überhaupt nicht mitreden, weißt du, was ich meine?
    Joachim wusste es,
oh Mann
, er wusste genau, wovon Walter sprach.
    – Oh Mann, ich weiß genau, wovon du sprichst. Hier. Hier drinnen!
    Er legte sich die Hand aufs Herz.
    – Freut mich, sagte Walter nach einem Schluck aus der Flasche. Freut mich. Ist gut, wenn sich die Leute verstehen, wenn man bedenkt, wie leicht sie andauernd aufeinander verzichten können, diese Wichser.
    Joachim blickte Walter glücklich an.
Nimm mich in den Mund
, sagte sein einsamer Zeigefinger, mit dem er Walters Ärmel hochschob, damit er auf dessen Armbanduhr ablesen konnte, wie viele Stunden dieser Nacht noch blieben.

Die Panne, erster Akt
    Ich habe die Augenbrauen meines Vaters geerbt. Zwei dicht behaarte, schwarze Raupen über meinen Augen, dunkler als mein Haupthaar, dunkler auch als der Prophetenbart, der in naher Zukunft meinem Kopf etwas von einem mürrischen Totenschädel verleihen wird. Bei Gefahr ziehen sich die Augenbrauen zusammen, sodass sie einander berühren, eine kleine, elastische Zugbrücke, knapp oberhalb der Nasenwurzel.
    Ich kann, wenn es sein muss, ziemlich ernst schauen.
    Der Mund wird bitter und schmal, ein Gedankenstrich zwischen zwei schlimmen Ereignissen, die ohne Grund eng beieinander liegen. Und über die große, runde Stirn, die sonst glatt ist wie ein mit Wasser gefüllter Ballon, ziehen Andeutungen von Falten.
    Der Anblick meines Kindergesichts in einer schwach spiegelnden Fensterscheibe. Ein Wintermorgen vor vierzehn Jahren.
    Alle Mülltonnen trugen weiße Hauben. Die Straße entlang standen Autos, denen die Schneedecke dieselbe kokonartige Unbeweglichkeit verlieh, wie sie abgedeckten Möbeln in einem unbewohnten Strandhaus eigen ist. Eine Vielzahl von Fußspuren auf dem schmalen Gehweg, der durch den Garten führte, ließ an Käfer im Gänsemarsch denken, und das Geäst der Bäume erschien in dem harten winterlichen Gegenlicht, das der Himmel erzeugte, noch verwinkelter und verworrener als sonst. Ein wenig erinnerte es an misslungene Imitationen chinesischer Kalligraphie. Es schneite zwar nicht mehr, aber die spärlichen Sonnenstrahlen wurden

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