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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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setzte sich in Bewegung und ging auf das Gasthaus zu, in dem wir Walter und seine Eltern treffen würden.
    Die Familie Zmal war wohlhabend, im Grunde genommen reich. Sie lebten außerhalb der Stadt in einem riesigen Haus, das von außen sehr verfallen aussah, innen jedoch mit altertümlicher Üppigkeit protzte, und in dem zu schlafen mir wie eine verbotene Jenseitsvorstellung erschien.
    Walter und ich begrüßten einander, wie sich männliche Kinder gleichen Alters begrüßen: Wir stellten uns nebeneinander auf und setzten ein Gespräch über Fernsehserien oder Wrestling-Stars fort, das wir nie begonnen hatten.
    Mein Vater hatte Walters Schwester Mirja ein Jahr lang unterrichtet und so den berühmten Architekten Zmal kennen gelernt. Er war einige Male in der Sprechstunde erschienen und hatte mit meinem Vater über
Strukturen
gesprochen, ohne dass man genau verstanden hätte, was er damit meinte. Er sprach gerne über abstrakte Dinge.
    Auch an diesem Tag, als wir um den runden Holztisch saßen, Walter mir direkt gegenüber, seine Eltern neben mir. Als hätten die Familien beschlossen, ihre Kinder zu tauschen.
    – Das ist ein Projekt, das ich schon so lange vorbereite, dass ich langsam das Gefühl bekomme, es wird mich überleben, sagte Herr Zmal mit einem unsentimentalen Seufzer. Diese großen, übergreifenden Ideen kommen mir immer ganz harmlos vor. So wie ein Teller, der einem aus der Hand fällt. Man erschreckt sich, denkt sich aber weiter nichts dabei. So etwas passiert eben, sagt man sich.
    Aber mein Vater war heute leider nicht sehr gesprächig. Kein Wunder, er war schließlich unrasiert und das machte einen erwachsenen Mann bekanntlich schweigsam. Keine Plaudertasche der Welt trug einen Dreitagebart. Ich fragte mich, ob ein Gesicht mit Bart tatsächlich
schwerer
war.
    – Mhm, sagte er.
    – Genau, sagte Herr Zmal. Ich bin, weißt du, ich bin manchmal so zum Bersten voll mit Ideen, dass ich einen Kompromiss schließen muss, mit dem eigenen Gehirn. Auslese, sage ich dann, aussortieren, abwägen. Das ist unerhört schwierig, weil man die Tragweite seiner Einfälle natürlich nie abschätzen kann, es sei denn, man hat ein sorgenfreies Leben.
    – Ja.
    Meine Mutter las die Speisekarte, als wäre sie ein französischer Roman.
    – Man hat mir gerade angeboten, ein Krankenhaus zu entwerfen, mit allem Drum und Dran. Dreihunderttausend sofort, im Voraus. Ohne Fragen. Hab ich abgelehnt. Abgelehnt.
    Er präsentierte uns seine Hände, als würde er sich ergeben.
    – Ja?
    – Ich will nichts mit Krankenhäusern zu tun haben, sagte Herr Zmal. Da wird man sehr schnell in eine Ecke gedrängt. Ich meine, man muss Krankheit nicht noch durch erhöhten Komfort belohnen. Das ist irgendwie widernatürlich. Krankheit ist letztendlich ein Verrat an der Gesellschaft. Ein Verrat, der nicht bestraft werden sollte, aber ein Verrat, immerhin.
    – Mhm, nickte mein Vater.
    – Gerade letzten Monat ist einer meiner Zeichner verunglückt. Jetzt liegt er im Wachkoma, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht an so etwas glaube, für mich ist das ein Widerspruch. Entweder wach oder Koma. Beides auf einmal – aber egal, davon verstehe ich nichts. Er kann jedenfalls nicht mehr arbeiten. Manchmal hat er noch lichte Momente, hat man mir gesagt. Aber ich habe es trotzdem nicht geschafft, ihn zu besuchen. Meine Nase ist sehr empfindlich.
    – Mhm.
    – Einfach abgelehnt, wiederholte Herr Zmal, obwohl niemand mehr das Echo hörte. Ich weiß ja nicht, wie das bei dir ist, bei mir jedenfalls setzt der kreative Prozess immer eine Kettenreaktion in Gang, so wie diese …
    Er wandte sich an seine Frau, die ihn ansah, als wäre er eine Zimmerecke.
    – Wie sagt man … Du kennst das, solche Installationen, solche Dominospiele an der Wand.
    Er deutete im Raum herum, auf die Wände, auf die Tischplatte.
    – Also etwa … auf der Wand laufen irgendwelche Dinge entlang und setzen irgendwelche anderen Dinge in Gang und so weiter und eines geht in das andere über. Du weißt doch, was ich meine?
    Seine Frau schaute auf die Wände der Gaststube, wo sich keinerlei Anhaltspunkte fanden. Niemand sagte ein Wort. Ihre großen, kirchenfensterförmigen Augen wanderten noch ein wenig herum, dann kehrten sie in ihre Ausdruckslosigkeit zurück.
    – Ich habe keine Ahnung, sagte sie leise.
    Beim Sprechen bewegte sie ausschließlich die Unterlippe.
    – Doch, sicher, du weißt schon, du kennst das. Das gibt’s in Filmen immer, bei diesem Film zum Beispiel, dem mit dem Auto, das

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