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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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unsere Rückkehr wartete? Mein Vater und meine Mutterwackelten in einigem Abstand voneinander vor mir durch den Schnee. Meine Mutter sah manchmal zu mir zurück. Was sah sie in diesem Augenblick, als ihr Kopf zwischen meinen Fingern zerplatzte – einfach so,
zp!
Dachte sie vielleicht: Merkwürdig, was macht er da bloß? Hat er was im Auge? Spielt er Fotografieren? Auch der Kopf meines Vaters musste dran glauben, mehrere Male. Aber bei ihm machte es keinen rechten Spaß, denn er sah heute nicht aus wie sonst. Mir war aufgefallen, dass er sich am Morgen nicht rasiert hatte. Ich hob meinen Finger wieder vors Auge. Diesmal war er der schwarze Lauf einer Pistole. Ich schoss auf in der Ferne winkende Baumwipfel. Sie zerklirrten wie Fensterscheiben, Schnee rieselte zu Boden. Vielleicht traf ich dabei auch ein Vogelnest. Ich schoss das halbe Magazin leer. Der Waldboden, übersät mit schreienden Vogelküken. Und die Eltern kommen heruntergeflattert, raufen sich die Haare und schreien vergeblich um Hilfe.
    Um die unangenehme Vorstellung loszuwerden, biss ich mir in den Finger.
    Zuletzt wurden nur wenige Worte gewechselt. Der Wagen sprang nicht an. Dann sprang er an, aber die Reifen drehten durch und wir schlitterten seitwärts von der Straße. Mein Vater stieg aus, begutachtete die Bodenverhältnisse.
    Er erklärte meiner Mutter, die nicht Auto fahren konnte, was sie zu tun hatte. Er würde anschieben.
    Sein Gesicht erschien in der Heckscheibe. Meine Mutter tat, was immer sie tat. Nichts geschah. Ich drehte mich um. Mein Vater war verschwunden. Dann tauchte er wieder auf, mit schmerzverzerrtem Gesicht, beide Hände an der Hüfte. Dann ging er ein paar Schritte ins Leere, denBlick zum Himmel gedreht. Eine Hand tastete nervös auf seinem Rücken herum. Er atmete so, dass man es sehen konnte.
    – Okay, ich fahre. Ihr beide versucht anzuschieben, sagte er.
    Ich war als Erster draußen. Ich fühlte mich sehr stark, jetzt, da ich für würdig befunden worden war, meine Stärke unter Beweis zu stellen. Ich nahm Aufstellung, ich war bereit.
    Aber mein Vater brauchte sehr lange, bis er ins Auto gestiegen war. Irgendetwas mit seinem Gleichgewicht schien nicht zu stimmen. Bestimmt hatte er zu schnell geatmet.
    Er startete den Motor, der eiernd ansprang, dann schoben wir an und – tatsächlich, als hätte ein Riese einen gigantischen Eisberg bewegt. Die Reifen knirschten bestätigend, endlich hatten sie etwas, womit sie arbeiten konnten. Und da fuhr er. Ein herrlicher Anblick.
    – Ha!, schrie ich.
    Ich war ein Superheld, ich war stärker als ein Auto. Das Auto fuhr dahin, es bog um eine Kurve. Ich hatte es befreit, aus Schnee und Eis befreit, ich war sein Retter.
    In der Ferne sahen wir das Auto ein wenig langsamer werden. Jetzt war er doch sehr weit gefahren. Bestimmt aus Übermut. Ein winziger Schranken senkte sich vor dem Wagen. Wir winkten, gingen los.
    – So weit, sagte meine Mutter.
    Ein Zug kam aus dem Nichts, bretterte zwischen dem Wagen und dem Rest der verschneiten Welt durch. Mein Vater, eine kleine, schwarze Gestalt, stieg aus dem Auto und stand eine Weile einfach da. Wir gingen ihm schweigend entgegen, ohne besondere Eile. Weit war er gefahren. Aber bestimmt nur deshalb, weil der eingefroreneMotor ein wenig auf Temperatur gebracht werden musste.
    Als die Schranken wieder hochgingen, waren wir vielleicht zwanzig Meter gegangen. Das Auto setzte sich langsam wieder in Bewegung und fuhr davon.
    Die Nacht war über der entsetzten Landschaft hereingebrochen. Meine Mutter hatte begonnen, sich bei mir zu entschuldigen.
    – Das war bestimmt nicht Absicht, sagte sie und wischte sich die Augen mit dem immer gleichen Taschentuch.
    Sie hatte mehr davon in ihrer Handtasche, aber sie wollte nichts verschwenden, auch wenn es inzwischen völlig durchnässt war. Jetzt hieß es zusammenhalten, sparen, sich konzentrieren.
    Es war nicht absichtlich passiert. Es war wahrscheinlich nicht einmal wirklich passiert.
    Wenn er nicht vor dem Bahnübergang angehalten hätte, wenn er nicht kurz ausgestiegen wäre, ein kleiner, verzweifelter Däumling, hätte man meinen können, dass er vielleicht entführt worden war von einem … einem vermummten Mann, der sich auf dem Beifahrersitz versteckt gehalten hatte.
    Ja, der Mann zieht die Pistole und sagt:
    – Also, wenn ich sage
losfahren
, dann fährst du los, sonst bringe ich die beiden um, hast du das kapiert?
    Das Gesicht meines Vaters erstarrt. Er sieht nicht mehr zu uns zurück. Er bewahrt Ruhe.

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