Die Frequenzen
Bataille gibt es dieses Dreigestirn, eine
Trias
des Denkens gewissermaßen. Drei Dinge, die man nicht direkt ansehen kann und die deshalb im Grunde dasselbe sind. Erstens: die Sonne. Aus offensichtlichen physiologischen Gründen, die Netzhaut würde verbrennen. Zweitens: das Auge. Weil es als einziges zurückblicken kann und dadurch unkontrollierbare soziale Uhrwerke in Gang setzt. Und drittens: der Anus.
– Ach, komm, du verarschst mich, sagte Walter.
– Nein, lies nach. Es steht alles hier drin. Der Anus, weiler mit Tabu und Ekelgefühlen belegt ist. Deshalb schaut ihn niemand an.
Walter dachte daran, dass er alle diese Schranken schon einmal überschritten hatte. Bei der Sonnenfinsternis im Jahr Neunundneunzig. Natürlich nur durch eine Schutzbrille, und dann, als die nicht mehr nötig war, auch mit freiem Auge. Und in fremde Augen schaute er sowieso die ganze Zeit. Wenn man genau hinsah, spiegelte man sich darin, ein winziges Männchen, das in einem fremden Augapfel gefangen war. Und der Anus, na ja, er konnte nicht anders, wenn er Sex hatte, egal, ob mit Männern oder Frauen. Es war eine unschuldige und niedliche Stelle, fand er. Wenn man sich aus ihr zurückzog, nachdem man sie unter Zuhilfenahme von Gleitmitteln penetriert hatte, konnte sie sogar blinzeln. Ringförmig und nicht so elegant wie ein Auge, aber immerhin.
Bis zum späten Nachmittag fuhr Walter durch die Stadt. Er aß bei einem Imbissstand am Hauptplatz und erbrach sich hinterher in einen Mistkübel, der gerade noch rechtzeitig aufgetaucht war. Er fuhr nach Hause und legte sich hin. Er nahm den Brief von Valerie wieder zur Hand und las an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte. Zu seiner Überraschung ging es plötzlich auch um andere Patienten. Natürlich, schon klar. Es war schließlich eine Gruppentherapie, in der er als Strohmann mitwirken sollte. Die meisten Namen waren abgekürzt.
Das Problemkind in der Gruppe ist G
., schrieb Valerie.
Sie wird nach jeder Sitzung von ihrem Mann W. abgeholt. Er hat sie verlassen, als G. schwanger war und
…
Interessant, interessant. Er fragte sich, ob das überhaupt erlaubt war. Aber Valerie schien sich nicht an konventionelle Vorgehensweisen zu halten. Es wäre interessant zu wissen, dachte Walter, ob sie überhaupt studiert hatte.
Er veränderte seine Liegeposition, aber diese minimale Verschiebung seiner inneren Wasserwaage ließ die Übelkeit neuerlich in ihm hochsteigen. Er stürzte zur Toilette. Als sein Kopf wieder aus der Klomuschel auftauchte, bemerkte er, dass er die zusammengehefteten Blätter des Briefes immer noch in der Hand hielt. In der Eile hatte er vergessen, sie vor sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Die Blätter waren besudelt.
Walter legte sie zum Trocknen auf den Heizkörper neben der Kloschüssel. Er wischte sich den Mund mit Klopapier ab, dann riskierte er einen Blick auf sein Erbrochenes. Eine kleine, ja, tatsächlich, eine tote Wespe schwamm inmitten der halbverdauten Essensreste. Eine Weile erwog er, sie herauszufischen und zu untersuchen. Wie war sie überhaupt in seinen Magen gelangt? Aber dann konnte er den Anblick nicht länger ertragen und zog die Spülung. Der scharfe Geschmack der Magensäure hatte sich in seinem Mund zu etwas Hartem, Metallischem verändert. Wie die Vorahnung einer Katastrophe.
Er klappte den Klodeckel herunter und setzte sich hin. Dabei stieß er sich den Kopf am Spülkasten. Verdammte Scheiße. Er betrachtete den besudelten Rollenentwurf. Immer musste er alles in letzter Sekunde versauen.
Dinge, die man nicht direkt ansehen kann, dachte er ironisch. Ja, der eigene Hinterkopf.
Die Panne, zweiter Akt
Es ist unmöglich, seinen Namen in den Schnee zu pinkeln, außer in Schreibschrift, die eine stetige Linienführung erlaubt. Die dampfende Spur erschien aus unerfindlichen Gründen um eine Sekunde zeitversetzt, ein torkelndes, geisterhaftes A. Dann ging ich dazu über, eine kleine, dunkelgelbe Mulde zu befüllen. Es war eine sehr dunkle Schattierung von Gelb, eine kränkliche Farbe, die einem beim bloßen Hinschauen Übelkeit bereitete. Ein paar Tropfen landeten auf meinen Schuhen, drei kleine Punkte wie für ein Blindenzeichen. Ich bohrte die Schuhspitze in den Schnee, dachte
Zschschsch
, gleichzeitig machte ich den Hosenschlitz wieder zu.
– Bist du fertig?
Die Stimme meiner Mutter war sehr nahe. Ich stapfte hinter dem Baum hervor, da stand sie, ungeduldig. Mein Vater wartete etwas abseits.
– Können wir?, fragte sie.
Mein Vater
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