Die Frequenzen
Schreibtisch.
gez.
Dr. Georg Kerfuchs
(abgedruckt in:
Die Maultrommel
, Maturazeitung des Jahrgangs 1993)
Das Konzept
Zuerst waren da drei Seiten in kompliziertem Psychologenjargon über etwas, das sich
Theorie seelischer Gleichgewichtssteuerung
nannte. Es ging darin irgendwie um Verlust und Ausgleich, um Spannungszustände und Öffnung, Halt und Lösung. Die Begriffe waren so abstrakt gebraucht, dass Walter allein vom Lesen einen trockenen Mund bekam.
Er versuchte sich zu konzentrieren, aber seine Beine wollten nicht zur Ruhe kommen. Er war so aufgeregt, dass er den ganzen theoretischen Unfug schon nach wenigen Zeilen übersprang. Endlich kamen die interessanten Stellen, das Fleisch sozusagen. Unwillkürlich leckte er sich die Lippen.
Seine Rolle war, wie es schien, sehr einfach. Valerie beschrieb sie ihm in kompakten, leicht fassbaren Begriffen. Walter sprang auf, rannte in die Küche und holte sich Erdnüsse. Er schälte und knabberte sie in atemberaubendem Tempo, während er mit den kleinen Fingern seiner Hände in Valeries Skript weiterblätterte, weil die anderen Finger voller Salzkörner waren. Er konnte sich vor Freude kaum konzentrieren. Er fuhr sich durchs Haar, bemerkte sein Versehen, lachte darüber und leckte sich die Finger.
Da er den ganzen Tag Zeit hatte, sich mit Valeries Brief zu beschäftigen, beschloss er, sich dieses Vergnügen aufzusparen. Er wollte ein wenig mit dem Rad durch die Gegend fahren.
Meine erste Rolle!, dachte er. Danach mussten ihn eigentlich alle Bühnen nehmen, denn er hatte so etwas wie einen Versuch in Echtzeit vorzuweisen. Er bemerkte,dass er schon wieder vergessen hatte, was Valerie in dem Brief geschrieben hatte.
Theorie der
… Egal, er hatte den ganzen Tag Zeit, dann noch die Nacht, und so schwer würde es wohl nicht sein. Die Therapeutin hatte ihn als eine Art Hilfskraft (
Immerhin verfügen Sie über Schauspielerfahrung!
) eingestellt, und von außen betrachtet war das bestimmt nicht atemberaubend, aber von innen – da bedeutete es den wichtigsten Schritt in die Eigenverantwortung seit Erschaffung der Welt.
Walter hatte Schwierigkeiten, die Tür aufzusperren, weil seine Hand zitterte. Er schüttelte sie aus, wie Schauspieler das machen, wenn sie Lampenfieber haben.
Beim Verlassen der Wohnung vergaß er seine Frisur zu kontrollieren. Eine fettige Strähne, auf der winzige Salzkörner glitzerten, stand schräg von seinem Kopf ab. Der Wind spielte mit ihr, Walter bemerkte es nicht. Er hatte das Gefühl, der angenehme Sommerwind fahre durch ihn hindurch und blähe ihn auf wie einen Ballon.
Er fuhr mit dem Rad durch den Park. Ein alter Mann auf einer Bank fütterte mit kleinen, feuchten Brotkrumen die ersten Sonnenstrahlen. Vögel gab es keine.
Als er durch die Annenstraße fuhr, schneller als es ratsam war, wusste er, dass er die wunderbare Neuigkeit unbedingt jemandem erzählen musste. Der Fahrtwind kühlte ihn ein wenig ab. Wem? Wem?
Mit dem Vorderrad geriet er in eine Straßenbahnschiene, und fast wäre Walter hingefallen – Slalom fahrend fand er sein Gleichgewicht wieder. Vielleicht sollte er es Joachim erzählen. Mit Joachim hatte er lange nicht mehr telefoniert. Walter wurde etwas langsamer. Auch war er ein wenig außer Atem.
Walter kam an einer Buchhandlung vorbei, die vor etwa einem Jahr geschlossen worden war. In den sonstvöllig leeren Schaufenstern hingen die immer gleichen Plakate.
Sommerdiebe
von Truman Capote. Darunter der mitten im Sprung erstarrte Schriftsteller, den sonderbar quadratischen Mund aufgesperrt, ein Rachen, in dem die flamboyante Lebensfreude eines ganzen Zeitalters verschwunden war.
Schade um die alte Buchhandlung, dachte Walter. Es war die einzige in der Stadt gewesen, in der man unwillkürlich in ein konspiratives Flüstern verfiel, wenn man durch die Reihen der Bücher ging (die nach keinem allzu offensichtlichen System geordnet schienen). Und die Angestellten behandelten jede noch so alberne Frage mit fast kondolenzartiger Ernsthaftigkeit. Wenn sich ein Buch als nicht lieferbar erwies, entschuldigten sie sich dafür. Auch kompromisslos schwierigen Fragen begegneten sie mit derselben zinnsoldatenen Standhaftigkeit.
Joachim:
– Ich suche ein Buch von Bataille, aber ich weiß den Titel leider nicht. Also vor allem die frühen Schriften über die Sprache der Blumen und den großen Zeh.
Und die Angestellte brauchte nicht einmal einen Computer, um zu wissen, worum es ging.
Hinterher hatte er es Walter erklärt:
– Bei
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