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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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vielleicht hatte er seinen Gürtel zu eng geschnallt. Er ächzte, als trage er eine zentnerschwere Last auf dem Rücken. Ich tat es ihm gleich. Meine Mutter ging aufrecht am Fenster vorbei. Sollte die ganze Welt sehen, dass sie sich nicht versteckte.
    – Warum tust du das?, fragte sie. Ist er nicht so was wie dein Freund?
    – Gewesen, sagte mein Vater.
    Wir waren schon beim Auto, da wurde die Haustür plötzlich aufgestoßen, und mein Vater setzte sich in seiner Angst hinter dem Wagen fast in den Schnee, damit man ihn nicht sah. Aber es war nur ein alter Mann mit Steirerhut, der mit seinem Gehstock die rutschigen Stufen hinunterbalancierte.
    Im Auto schaltete mein Vater sofort das Radio ein. Die Endmelodie der Nachrichten, dann Verkehrsfunk. Er startete den Motor.
    Es dauerte ungewöhnlich lange, bis er den Sicherheitsgurt angelegt hatte.
    Wir fuhren dahin, es hatte leicht zu schneien begonnen, und ich ließ mich von den Scheibenwischern hypnotisieren: Nach einer halben Stunde nahmen sie die Gestalt von Trickfilm-Arbeitern an, die sich nach Ziegeln bücktenund sie an den Nachbarn weitergaben, immer im gleichen Takt, die Ziegel an den jeweiligen Nachbarn, nachdem sie sich gebückt hatten, von links, in einem immergleichen Takt, nach rechts, an den jeweiligen Nachbarn, Ziegel für Ziegel.
    Die Landschaft, durch die wir fuhren, kam mir längst nicht mehr bekannt vor. Es war zweifelhaft, ob hier überhaupt jemand leben konnte, so weit entfernt von jeder Zivilisation. Als wir schließlich an einem winterlichen Wasserfall vorbeikamen, für den die Zeit stehen geblieben war, fragte ich, wann wir endlich da wären.
    Niemand antwortete.
    Wir fuhren an den immergleichen Telegraphenmasten vorbei, die kleine weiße Hauben aufhatten und so still waren, als bewachten sie eine Krippe. Kein anderes Auto war zu sehen, keines kam uns entgegen, keines parkte entlang der Straße. Ich musste daran denken, wie wir im Urlaub einmal an einer Unfallstelle vorbeigekommen waren. Ein räumliches Stillleben am Straßenrand. Ein kleiner Körper oder der Teil eines Körpers lag unter einer Decke, die wie Alufolie aussah. Menschen gingen herum, als trügen sie schwere Lasten, Rettungskräfte und Verirrte, mit unterschiedlichen Farbmarkierungen. Wie es sich gehörte, wurde unser Wagen langsamer, denn ein Auto kann weder pietätvoll das Haupt zur Seite neigen noch mitleidig die Lider seiner Scheinwerfer senken. Aber auch die Zeit innerhalb der Unfallszene, jenes Bezugssystems, für das die Naturgesetze längst nicht mehr gelten, hatte sich verlangsamt: ein Mann, eingewickelt in einen Teppich, nahm in Zeitlupe einen Schluck von einem Kaffeebecher, sein Adamsapfel tauchte ab und wieder auf. In den paar Sekunden, die es dauerte, sah man in den stillen Trümmern die ganze Szene noch einmal, wie in Eis konserviert.Ein großer, dunkler Laster stand etwas abseits, das schuldige Fahrzeug, und sein Kopf hing traurig in den Straßengraben. Daneben der umgekippte Kleinwagen in stabiler Seitenlage. Uns blieb nichts anderes übrig, als vorüberzugleiten, verschont und begünstigt, so gut wie unsichtbar, begleitet von dem respektvollen Knirschen Tausender winziger Glassplitter unter unseren Reifen, ein maßvolles und intimes Solidaritätsgeräusch, wie der Applaus von Zellengenossen.
    In der Ferne erhob sich aus dem Schnee ein altes Getreidesilo, der Aussichtsturm eines riesenhaften U-Boots, das an dieser Stelle durchgebrochen war, um einen fremden Eiskontinent zu erforschen. Aus kahlen Baumkronen, die mitten in der Explosion erstarrt waren, erhob sich nebelhaft ein Vogelschwarm, schrumpfte plötzlich zusammen und war nicht mehr zu sehen.
    Wir waren etwa eine halbe Stunde gefahren, wortlos und konzentriert. Dann war diese große verschneite Wiese aufgetaucht, im Hintergrund ein Waldstück, daneben das grobkörnige Gehöft mit dem Silo und dem sonderbaren schmalen Nebengebäude, das aussah wie eine Kirche ohne Glockenturm. Am Rand des Waldes stand in der winterlichen Einöde ein Schild, das einen Sommerwanderweg markierte, für Menschen, die wissen wollten, wie weit sie gegangen waren, eine Erinnerung an frohere Zeiten: 0,5 km.
    Wir gingen schweigend durch die erfrorene Landschaft und hinterließen unsere Fußspuren, in denen der Schnee nicht mehr weiß war, sondern blau. Ich hielt Daumen und Zeigefinger ganz nah vor mein Auge, bis die Finger riesenhaft erschienen, die Kiefer eines Dinosauriers. Ob Walter mit seinen Eltern immer noch im Gasthaus hockte und auf

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