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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Er möchte um Hilfe schreien, natürlich, denn er ist kein mutiger Mann, er weiß das, und trotzdem bleibt er still.
    – Wenn der Wagen anspringt, trittst du aufs Gas, klar?
    – Ja, natürlich, nur tun Sie bitte meiner Familie nichts, ich tu auch alles …
    – Keine Angst … jetzt, losfahren, sofort!
    – Aber, ich –
    – Fahr jetzt, oder –
    Und da hilft nichts mehr, mein Vater tritt aufs Gas, die Reifen drehen noch einmal durch, aber schon haben sie sich freigekämpft und tragen den Wagen davon, davon, davon.
    – Warum … warum tun Sie das?, fragt mein Vater mit Tränen in den Augen.
    – Hör auf zu heulen, du verdammte Memme, sagt der Entführer. Ich warne dich.
    Mein Vater schluckt mühsam, sammelt sich, versucht sich zu beruhigen.
    – Warum ich, warum ausgerechnet ich?
    – Schicksal, Pech, sagt der Entführer und lacht.
    Eine Weile fahren sie schweigend dahin, die Mundwinkel meines Vaters zucken. Der Entführer lächelt, schaut aus dem Fenster, herrliche Landschaft, herrlicher Ausblick, sollte man öfter machen. Sein Gesicht spiegelt eine grausame, beinahe endzeitliche Zuversicht.
    Als sie endlich in der Stadt sind und an einer Ampel halten, fasst mein Vater wieder Mut.
    – Wo … wo soll ich Sie hinbringen? Sie können alles haben, alles … den Wagen, mein Geld … was Sie wollen …
    – Nur die Ruhe, sagt der Entführer. Entspann dich. Da, links abbiegen, los!
    Sie biegen in eine ruhige Seitenstraße ein.
    – Halt!, ruft der Entführer.
    Mein Vater bringt den Wagen zum Stehen.
    – Also, zum angenehmen Teil … Freut mich sehr, sagt der Entführer und streckt meinem Vater die linke Hand entgegen. Darf ich mich vorstellen: Karl. Aber du wirst mich Herr und Meister nennen.
    – Wie? Ich –
    – Nein, nein, nein. Herr und Meister. Sag es.
    – Herr und Meister.
    – Kopf hoch, sagt der Entführer, nicht so traurig. Noch einmal, bitte, etwas fröhlicher. Also?
    – Herr und Meister, sagt mein Vater mit gespielter Inbrunst.
    – Viel besser! Und jetzt raus, aber schön langsam. Ich zuerst.
    Sie steigen aus dem Wagen. Mein Vater hält die Hände hoch, der Entführer dirigiert ihn mit der Pistole in einen Hauseingang. Aber dort ist es natürlich viel zu dunkel, um noch irgendetwas zu erkennen.
    Wir warteten die ganze Nacht darauf, dass das Auto vorfahren würde. Er musste ja nicht zu uns ins Haus, es würde schon genügen, wenn er einfach vor dem Steuer sitzen bliebe, unbeweglich und geheimnisvoll, wenigstens in Reichweite. Er war vermutlich wegen irgendetwas sauer. Er hatte überreagiert. Das kam vor. Man konnte bestimmt über alles reden.
    Meine Mutter war still geworden, seit wir zuhause angekommen waren. Wir saßen zusammen im Wohnzimmer und redeten. Das heißt, meine Mutter redete fast nichts, nickte nur manchmal zu einer Bemerkung von mir. Ich redete, um nicht den Verstand zu verlieren.
    Hin und wieder fuhr draußen ein Auto vorbei, und gefächerte Lichtstreifen wanderten über die Tapeten.
    Es sei unbedingt nötig, erklärte ich ihr, dass wir, falls er nicht mehr auftauchte, die Familie von Walter verklagten. Vor allem seinen Vater, der diese ganzen gemeinen Sachen gesagt habe. (Was genau hatte er gesagt? Ich konnte mich nicht erinnern.) Und vielleicht sei Walter selbst auch nichtganz unschuldig. Jemand, der Zmal heiße, könne nur ein Verbrecher sein.
    Während ich meinem Redefluss freien Laufließ, starrte meine Mutter in eine Ecke, wo es nichts zu sehen gab als eine Steckdose. Nur manchmal schien sie plötzlich zu begreifen, wo sie sich befand, was passiert war – und blickte verwirrt um sich, als erkenne sie die Zimmereinrichtung nicht mehr wieder.
    Es sei vielleicht alles ein Unfall gewesen, sagte ich, vielleicht habe das Auto nicht bremsen können (der Zug, der Zug!). Vielleicht sei er deshalb direkt in die Werkstatt gefahren, um uns nicht zu gefährden. Weshalb wäre er sonst mit uns über den Hühnerhof gegangen, er hatte ja jede Gelegenheit, uns zu verlassen, wenn er das vorgehabt hätte. Wir wären noch länger mit Walter und seinen Eltern zusammen gesessen und hätten geglaubt, er wäre am Klo.
    – Ja, sicher, warum nicht, sagte meine Mutter, ohne mir wirklich zu antworten.
    Eine schreckliche Einsicht: Sie ließ mich reden. Und weiterreden. Es war völlig egal, was ich sagte.
    Dann erhob sie sich und schickte mich schlafen. Ich zog mich um, wurde endlich die lästige Unterhose los, die durch die ganze Aufregung geschmolzen war, und legte mich ins Bett.
    Von meinem Zimmer aus

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