Die Frequenzen
hörte ich meine Mutter laut ins Telefon sprechen. Sie wiederholte immer dieselben Sätze.
Entschuldigen Sie bitte vielmals, dass ich Sie so spät noch … Ja … Ich wollte nur fragen, ob … Nein, sicher … Entschuldigen Sie, bitte … Entschuldigung … Entschuldigung
…
In der Dunkelheit versuchte ich die Wörter, die sie sagte, mitzusprechen. Es gelang mir ganz gut. Aber bald bekam ich keine Luft mehr, weil ich während des Sprechensgenau auf meine Atmung achtete, und ich stand auf und öffnete ein Fenster. Draußen war es eiskalt, elektrisch aufgeladene Kälte. Unter den Straßenlaternen schneite es sogar. Wahrscheinlich musste er irgendwo warten, bis der Schneefall aufhörte, bevor er zu uns zurückkam.
Nach zwei Stunden ging ich wieder ins Wohnzimmer, setzte mich hin und wartete. Meine Mutter kam zu mir, stand eine Weile herum, dann ging sie ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Man hörte das Plätschern des Wassers.
Die Stunden vergingen bis zum Morgen.
Einmal wurden wir aus unserem nervösen Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf gerissen, als ein Telefon klingelte. Meine Mutter sprang sofort auf, der Sessel fiel nach hinten und blieb liegen, die Beine in der Luft wie ein hypnotisiertes Huhn.
Aber es war nur einer von denen, die sie vor ein paar Stunden angerufen hatte. Der Anrufer entschuldigte sich, dass er vorhin so unfreundlich gewesen war. Sie habe ihn aus dem Schlaf gerissen, da vergesse er manchmal seine Manieren. Worum gehe es denn? Tatsächlich? Nein!
– Doch, sagte meine Mutter. Es ist ihm vielleicht was passiert.
Gleich … jetzt würde sie in Tränen ausbrechen … gleich … warte, einen Moment … jetzt …
Ich wartete schon den ganzen Abend auf diesen Moment, der mir erlauben würde, zu weinen. Bisher hatte ich mich mit großer Mühe beherrscht. Es war wie dieses Spiel, wenn man in ein fremdes Gesicht starrt und versucht, nicht zu blinzeln. Ich durfte auf keinen Fall verlieren. Wer einmal verlor, der blinzelte immer als Erster.
Im Bus zur Schule stellte ich fest, dass die Welt sich verändert hatte. Der Busfahrer musste um fünfzig Jahre gealtert sein. Er sah aus, als würde er gleich einen Herzinfarkt bekommen. Außerdem trug er eine Perücke, was mir noch nie aufgefallen war. Sie sah seinen echten Haaren zum Verwechseln ähnlich, aber es war eindeutig eine Perücke. Außerdem hatte er eine winzigkleine Narbe auf der Oberlippe.
Überhaupt schien der Bus plötzlich von alten, sterbenden Menschen bevölkert. Die ganze Stadt. Sie krochen über die Gehsteige dahin, als trügen sie zentnerschwere Mäntel oder Hüte. Und vor mir saß ein mindestens hundertjähriger Mann, dessen Gesicht aussah wie gebrannte Erde. Einzig seine Nase hatte der Zerstörung widerstanden und war faltenfrei geblieben. Neben ihm saß eine Frau mit eingefallenen Wangen, deren Kopfhaut durch das schüttere Haar leuchtete.
Ich lehnte meinen müden Kopf an die Fensterscheibe, aber von den Vibrationen wurde mir schwindlig. Wir fuhren durch eine kurze Allee, die Morgensonne sprang zwischen den Gitterstäben der Bäume durch. Lichtblitze auf geschlossenen Lidern. Aber der Rhythmus des Flackerns, von dem ich sonst manchmal high wurde, erschien mir heute langsamer als sonst.
Ich habe nicht geschlafen, sagte ich mir. Ich bin übernächtig.
Heute, an diesem Morgen zur Schule zu gehen, mit dieser elenden und endlosen Nacht im Rucksack, erschien mir wie ein riesiger Fehler, als hätte ich mich unerlaubt von einem Kriegsschauplatz entfernt. Das alles – die Haltestelle, die letzten paar Meter zum Schulgebäude, die Flügeltüren, der immer gleiche Geruch nach Putzmitteln und Leberkäse – hatte nicht mehr das Geringste mit mirzu tun. Ich kam aus dem Krieg nach Hause, und die Welt hatte aufgehört sich zu drehen, und niemand war mehr da, der sich an mich erinnerte.
Warum musste ich hierher zurück?
Es gab wichtigere Dinge zu tun, zuhause, vor dem Telefon. Warten. Reden. Was, wenn mein Vater inzwischen zurückgekommen war und nach mir fragte? Nichts wünschte ich mir sehnlicher als ein Telefon, das man ohne Schnur mit sich herumtragen konnte. Vielleicht war er ja zurückgekommen, um sich richtig zu verabschieden.
Tut mir leid wegen gestern. Das war nicht so gemeint. Tut mir leid, aber ich muss eine lange Reise antreten, ich gehe nach Alaska. Der gestrige Tag im Schnee hat mir klar gemacht, wo ich hingehöre. Tut mir leid wegen gestern Abend, ich weiß, dass ich euch da einen ziemlichen Schrecken eingejagt
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