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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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haben muss, aber es war notwendig, bitte glaubt mir. Tut mir leid, aber ich bin entführt worden. Ja, wirklich. Habt ihr denn nicht bemerkt, wie sonderbar ich ausgesehen habe, als ich vor den Bahnschranken noch einmal ausgestiegen bin? Als würde man vom Auto aus eine Waffe auf mich richten. Warum hätte ich aussteigen sollen, wenn ich euch einfach so verlassen wollte? Um euch noch einmal zu sehen? Um euch zu quälen? Das ergäbe doch gar keinen Sinn
.
    Kein Lehrer merkte an diesem Tag, dass ein völlig Fremder in der zweiten Reihe saß, auf meinem Platz, und dass dieser Fremde keine einzige Frage falsch beantwortete, auch wenn er sehr leise sprach, sodass man ihn fast nicht verstehen konnte und in übertrieben strengem und ungeduldigem Ton dazu auffordern musste, seine Antwort zu wiederholen. Keinem Lehrer fiel auf, dass ich mir vor Schreck die Fingernägel ins Handgelenk grub, als die Pausenglocke läutete. Ich versteckte die kleinen roten,halbmondförmigen Male unter dem Ärmel. In der Pause biss ich mir die Nägel ab.
    Warum hatte mich meine Mutter heute nicht zuhause behalten? Sie hätte doch eine Entschuldigung schreiben können, vielleicht sogar die Wahrheit sagen; ich wusste, eine erfundene Entschuldigung hätte sie aus Prinzip abgelehnt.
Wenn man einmal damit anfängt, hört man nie wieder auf
.
    Aber sie schämte sich wahrscheinlich, das war alles. Sie wollte nicht auf einem abgerissenen Din-A5-Zettel in ihrer kleinen und verletzlichen Handschrift erklären müssen, warum ihr Sohn heute nicht zum Unterricht erscheinen konnte. Sie wollte das Verständnis und die Anteilnahme des Lehrers nicht über sich ergehen lassen, wenn sie daraufhin zu einem kurzen persönlichen Gespräch eingeladen wurde. Sie wollte unerkannt bleiben. Eine Touristin im Land der Verzweiflung. Mit Kopftuch und großer, schwarzer Sonnenbrille. Mit gefälschten Papieren und einem in der Armbanduhr versteckten Kompass.
    Oder sie wusste mehr als ich und alles war vorherzusehen gewesen. Alles war am Ende tatsächlich geplant, vielleicht schon sehr lange. Ein Komplott. Andererseits waren da die Telefongespräche, die ich in der Nacht ja belauscht hatte. Es war nur Scham. Auch ich schämte mich.
    Ich hatte nicht bemerkt, dass der Lehrer neben mir stand.
    – Sind wir bei der Sache?, fragte er.
    Ich blickte auf.
    Er schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht, aktivierte den Hohnreflex der Klasse und alle lachten.

Sorgenkinder
    Die Ehe von G. und W. war in etwa das, was ein außen stehender Beobachter vielleicht als
Herausforderung
bezeichnet hätte. Leider ist selten ein außen stehender Beobachter zur Hand, wenn man einen braucht.
    Am Tag, da Gabi ihrer Tochter das Licht der Welt und so weiter, war Wolfgang kurzerhand davongelaufen und hatte sich für ein paar Wochen abgeseilt. Zuhause hatte er ihr einen Brief hinterlassen, der alles erklären sollte. Er hielt ihre Launen nicht mehr aus, aber er wusste auch, dass nach einer Schwangerschaft manchmal alles anders wurde, und zögerte noch, ob er nicht vielleicht wieder zurückgehen und den Brief vernichten sollte. Er blieb insgesamt vier Wochen fort, dann kam er zurück, reumütig und um einige dunkle Erfahrungen reicher, und fand seine Frau in der Tat völlig verändert vor: ein in Tränen aufgelöstes, bleiches Häufchen Elend.
    Aber alles von Anfang an.
    Wolfgang hatte vor Stunden im Warteraum Platz genommen und auf jedes Schreien in der großen, unübersichtlichen Klinik gelauscht, obwohl er natürlich wusste, dass er sich töricht verhielt. Seine Mutter war vor zwei Monaten gestorben, und das Familienstammbuch war mit einem lauten Knall hinter ihr zugeschlagen. Wolfgang musste nun ganz allein ohne Eltern in dem langweiligen Korridor darauf warten, dass seine Frau es im Alleingang wieder aufschlug. Man hatte ihm, da es eine moderne Klinik mit modernen Menschen war, angeboten, bei ihr zu bleiben und die Geburt zu filmen oder Fotos zu machen, aber er hatte es abgelehnt. Er war, trotz aller Aufregung über das bevorstehende Ereignis, traurig, dass seine Elternnicht da waren, um ihn dabei zu sehen. Er dachte daran, wie seine Mutter ihn gegen Ende ihres Lebens mit dem Wunsch überrascht hatte, in ein Spielwarengeschäft zu gehen, was er natürlich zuerst als Scherz abgetan, dann aber als letzten Wunsch respektiert hatte. Die Begründung seiner Mutter war gewesen:
Aber das hat dir doch immer
… eine Geste mit der Linken, welche noch recht beweglich war und nicht von der wachsartigen

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