Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
Vom Netzwerk:
Lieblingshemdgewesen war, war von Tränenflecken verunstaltet, und Gabi schämte sich dafür (und weinte darüber), dass sie überall, wo sie war, gleich eine Sauerei hinterlassen musste.
    Wolfgang war fort. Das konnte man ihm wahrscheinlich nicht verübeln. Ob er wieder zurückkommen würde, war schwer zu sagen.
    Schwer zu sagen, dachte sie.
    Ihre Unterlippe war wund und aufgebissen. Kein schöner Anblick. Außerdem fand Gabi, dass sie einen unangenehmen Geruch verbreitete. Kein Wunder, denn sie hatte sich schließlich seit Tagen nicht mehr gewaschen. Allein die Vorstellung, nass zu werden, ließ Übelkeit in ihr hochsteigen und sie schüttelte den Gedanken ab. Aber natürlich wurde davon der Geruch auch nicht besser und sie schämte sich wieder und weinte über die ewigen Labyrinthe, in denen sie sich ständig verrannte.
    Es war nicht gerecht. Alles. Nichts.
    Nichts war ihr zumutbar. Sie war allergisch auf das Universum, in dem alle Lebewesen allein und verlassen waren. Es machte sie krank und hilflos. Merkwürdig, dachte sie, und der Gedanke brachte ihr etwas Trost, merkwürdig, diese ganzen Menschen, die Raumanzüge anziehen, mit Messer und Gabel Fleisch zerteilen, Tiere in kleinen Käfigen einsperren, Bücher schreiben, in Gewässern schwimmen, einschlafen und wieder aufwachen, Holzbretter zurechtschneiden, Schminke auftragen, unerreichbar weit entfernte Gesteinsbrocken nach irgendwelchen Vorfahren benennen, applaudieren, Maßanzüge anfertigen, Krieg führen und einander Nobelpreise zuteilen – diese großflächige und unberechenbare, hauchdünne Besiedelungsschicht auf dem Planeten, im Verhältnis hundertmal dünner als die Haut eines Apfels. Und aus irgendeinem Grund musste sie an Weihnachtendenken, das bald bevorstand. Wo würde sie an diesem Tag sein? Zuhause, tot, in einer Zelle? Sie stellte sich vor, wie sie am Weihnachtsabend allein in der Stadt herumging. Das Baby war bei seinem Vater, der es vergeblich zu stillen versuchte. Ringsum nichts als verlassene Straßen. Das Leben ist zu lauter kleinen erleuchteten Fensterquadraten zerfallen. Eiskalter Wind.
    Das Rauschen des Regens hielt sie in ihren trübsinnigen Gedanken gefangen, es verlieh allem eine Kontinuität, der man sich kaum entziehen konnte. Regen ist etwas, das mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart stattfindet. Es ist jedes Mal
derselbe Regen
, er setzt jedes Mal die Reihe von finsteren Regentagen fort, die in der Erinnerung eine melancholische Lichterkette bilden.
    Gabi fasste über ihre Schulter und berührte den Heizkörper, nur um zu sehen, ob er auch funktionierte. Ihr war kalt, aber das musste nicht unbedingt an der Heizung liegen. Ihre Hand wurde warm und schwer. Als sie sie zurückzog, zeigte die Handfläche kleine rote Flecken, wie von Wachskreide.
    Das Baby wachte auf und begann in der Dunkelheit zu schreien.
    Gabi legte den Kopf auf die Knie und stellte sich die Stadt vor, unter dem Regen, von oben besehen. Irgendwo dort unten war sie, in ihrem Zimmer. Unauffindbar, klein. Die Erstarrung hatte begonnen. Ihr Kind lag reglos nebenan im Wohnzimmer, machte Bewegungen, wie kleine Menschen sie machen mussten, damit sie überlebten, aber es stand trotzdem still. Alles hatte aufgehört sich zu bewegen. Ein Pendel, ein erhängter Körper, der langsam in absoluten Stillstand übergeht. Kein Luftzug, keine Vibrationen. Das Licht einzuschalten hatte keinen Sinn mehr. Irgendwann würde es ohnehin ausgehen, für immer. Alleswar zum letzten Mal da, und vieles davon nicht einmal am rechten Platz. Alles tot, alles still. Reglos wie eine Schaukel im Winter. Reglos wie ein abgestorbener Baum vor einem Schulgebäude. Allen möglichen Beschreibungen der Welt fielen nach und nach die Verben aus, wie nicht mehr benötigte Zähne. Die Landschaft vor den Fenstern wie ein großer, toter Wal. Den Wind einzuschalten hatte keinen Sinn mehr. Er würde ja doch nur stehen bleiben, irgendwann. Und auch das Haus, aus dem im Augenblick wohl dunkler Rauch in den Nachthimmel stieg, dieses Haus, in dessen Bauch sie unbeweglich feststeckte, würde sich nicht mehr vom Fleck rühren. Ihre Hände lagen nutzlos im Schoß. Ein wenig ringelten sich noch die Finger, weil ihnen die Berührung mit dem Hosenstoff angenehm war. Aber sonst war alles erstarrt. Sogar die Bücher in den Regalen unterdrückten, mit Mühe, wie es schien, jede noch so kleine Bewegung.
    Ein plötzlicher Knall riss sie in die Höhe, die Lähmung fiel von ihr ab. Noch etwas unsicher torkelte sie ans

Weitere Kostenlose Bücher