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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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sich mehrmals bei ihr. Das mit dem Brief sei eine Dummheit gewesen, aber das alles liege jetzt hinter ihnen.
    – Verstehst du? Hinter uns. Alles.
    Sie nickte. Auf eine gewisse Art.
    Wieder hatte er das Gefühl, sein Kopf müsste implodieren. Ich bin in der Hölle, ich bin – nein. Ich muss vernünftig bleiben, dachte er. Sie braucht mich jetzt. Als Verrückter kann ich ihr nicht helfen und erst recht nicht meinem Kind.
    Aber in der Nacht hatte er eine quälende Vision von einem Schrumpfkopf, einem verschrumpelten Ding, das schon mehr einer faulen Zwiebel als einem menschlichen Gesicht glich. Und er zwängte diesen Schrumpfkopf unter Zuhilfenahme beider Daumen zwischen die Hinterbacken seiner Frau. Es gab ein schmatzendes Saugschluckgeräusch und schon sah der Homunculus aus seinem neuen Versteck hervor, rosig und verwandelt, ein frisch geschlüpftes Kindergesicht.
    Ich bin nicht normal, sagte er sich immer wieder. Er hatte das bestimmte Gefühl, dass der schwarze Raum dort oben unter der Zimmerdecke weiter war, als es schien. Er nahm eiskalte Bäder. Er gab sich Ohrfeigen und weinte.
    Danach fühlte er sich ein bisschen entspannter und gereinigt. Aber bald schon stellten sich die quälenden Träume wieder ein, und er bemerkte, dass er seinen Blick jedes Mal ängstlich abwandte, wenn sich seine Frau neben ihm im Schlafzimmer umzog.
    Er musste sich eingestehen, dass er schreckliche Angst vor ihr hatte.
    In seinen schlimmsten Träumen nahm sie manchmal die Form eines rätselhaften Gegenstands an, der gleichzeitig ein Glockenturm und ein Pfefferstreuer war. Was ihm daran genau Angst machte, konnte er gar nicht sagen. Er wusste nur, dass er Todesangst hatte und sich wünschte, sehr weit weg zu sein.

Falschfarben
    Im Zimmer meines Vaters gab es Schränke, die so alt waren, dass sich die flacheren Schubladen, jene, die ohnehin nicht viel enthalten konnten, langsam aufgelöst hatten und nun mit dem Holz verschmolzen waren. Es war völlig zwecklos, an ihnen zu rütteln oder zu zerren, sie blieben verschlossen wie der Mund eines Kindes, vor dem ein Löffel mit Lebertran schwebt.
    Meine Mutter traute sich lange nicht in sein Arbeitszimmer. Als sie es zusammen mit mir an einem verregneten Vormittag endlich betrat, war die Tafel das Erste, was uns auffiel. Auf ihr wartete nicht etwa eine Nachricht, im Gegenteil, sie war gelöscht worden mit einem Schwamm, dessen Wischspuren zu weißen, bauschigen Wolken erstarrt waren.
    Meine Mutter ging langsam und mit hochgezogenen Schultern durch das verlassene Zimmer, als erwarte sie eine Falle, einen Pfeil, der plötzlich aus einem Winkel geschossen kam, oder dass eine Alarmsirene losginge.
    Nichts geschah und sie entspannte sich. Dann wurde ihr Blick glasig und sie begann zu wühlen, als gälte es, ein verschüttetes Kind aus dem Sand zu buddeln. Ich half ihr. Meine Mutter verzweifelte allerdings bald an der Ziellosigkeit dieser Tätigkeit, da sie weder
wichtige Papiere
noch sonst irgendwelche Dinge von Bedeutung fand. Sie habe das zwar schon erwartet, aber es überrasche sie trotzdem aufs Neue, hier nur diese entsetzliche Leere vorzufinden. Wann hatte er das alles fortgeschafft? Hatte er es langsam gemacht, Schritt für Schritt, wie ein Schmuggler? Oder hatte er diese Leere einfach plötzlich entstehenlassen, wie ein Zauberkünstler, der eine signierte Banane verschwinden lässt?
    Ich verstand nicht, was sie meinte. Leere? Diese Unordnung, diese vielen Bücher, diese Schubladen voll mit alten Rechnungen, Kalendern und Magazinen. Natürlich, besonders faszinierend waren diese Dinge alle nicht, aber man musste sie zumindest einmal durchsehen.
    Hinter ein paar Büchern entdeckte meine Mutter zu ihrer Überraschung eine Flasche ohne Etikett, die halb leer war. Sie roch daran und blinzelte stark. Dann stellte sie sie wieder zurück.
    Ein kleiner Karton neben dem Mistkübel enthielt ein gelbliches Paket Briefe, die in verschiedenen unleserlichen Handschriften geschrieben waren. Ich versuchte etwas zu entziffern, aber es ergab nur Unsinn. Als ich schon nicht mehr glaubte, etwas Interessantes zu finden, fiel wie auf ein Stichwort eine Dose mit Tennisbällen um. Ich öffnete die Dose, die Bälle darin waren pechschwarz. Schwarze Tennisbälle? Ich stürzte die Dose, und die Bälle hüpften über den Parkettboden, dann dumpfer über den Teppich davon.
    Während wir in seinem Zimmer waren, wurde ich das Gefühl nicht los, dass wir uns vor einer Art Kulisse bewegten. Vielleicht war das alles nur

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